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Beitrag vom 10.09.2010
Loredana Nemes - Beyond
Elina Ioschpa
Die Fotografin Loredana Nemes wollte die Männerwelt der türkischen und arabischen Kaffeehäuser und Teestuben entdecken. Doch als Frau wurde ihr kein Einlass gewährt. Wie es ihr dennoch gelang...
... einen Einblick in diese für sie verschlossene Welt zu bekommen, dokumentieren ihre wunderschönen und einen verborgenen Mikrokosmos enthüllende Schwarz-Weiß Fotografien.
Hinter Fensterscheiben, Vorhängen, Fahnentüchern und Topfpflanzen zeichnen sich schemenhaft Körper ab, Stimmengewirr ist zu hören und der feine Duft des Wasserpfeifentabaks dringt auf die Straße. Die türkischen und arabischen Cafés sind Orte, die auf eine fremde, eine exotische Kultur neugierig machen. Doch die Neugierde wird meist von einem unbehaglichen Gefühl begleitet. Aufschriften wie "Zutritt nur für Vereinsmitglieder" verwehren interessierten FlaneurInnen den Zugang. Loredana Nemes sah als 12-Jährige während eines halbjährigen Aufenthalts im Iran zum ersten Mal die nur für Männer zugänglichen Cafés und war sofort von diesen fast mystischen Orten fasziniert.
Mittlerweile lebt Loredana Nemes als freie Fotografin in Berlin und will mit ihrem aktuellen Projekt die besondere Aura der Kaffeehäuser einfangen: "Ich fotografiere ihre Außenmembran, die uns die Innenwelt nur schemenhaft andeutet und die Trennung zwischen den Welten visualisiert."
Akribisch hat sich die in Rumänien geborene Fotografin auf ihr Projekt vorbereitet. Auf präzisen Stadtplänen, die jedes einzelne Haus zeigen, hat Nemes die für sie interessanten Cafés farbig markiert. Besonders bunt sehen die Stadtteile Neukölln, Kreuzberg und Wedding aus. Vor den Cafés studierte die Fotografin genau die Situation. Sie wählte bedacht den Winkel der Kamera, bezog die Lichtverhältnisse mit ein und ermittelte so lange den optimalen Aufnahmezeitpunkt, bis ihre alte Linhof-Kamera perfekt vor den türkischen und arabischen Cafés positioniert war.
Zwei Jahre zog Loredana Nemes durch die Straßen von Wedding, Kreuzberg und Neukölln und suchte die spannendsten Motive für ihr Projekt. In einem kurzen Text am Ende des Bildbandes erzählt die Fotografin von ihren Begegnungen mit Kaffeehausbesitzern und ihren Gästen. Neugierig sollen die Männer ihre alte Kamera begutachtet haben und wollten genau wissen, wie das Gerät funktioniert. An einem besonders heißen Tag wurden die Fotografin und ihre Assistentin sogar mit süßen Tee versorgt. Über diese besonders einprägsame Begegnung schreibt Loredana Nemes:
"Erst durch die Arbeit auf den Straßen Berlins und durch diesen kleinen Schluck Tee weiß ich, dass es Ali gibt, der von der schönsten türkischen Frauenbasketballmannschaft Berlins schwärmt."
Die in "Beyond" abgebildeten Fotos schaffen jedoch trotz persönlicher Kontakte mit den Kaffeehausbesitzern eine Distanz zwischen den BetrachterInnen und den abgebildeten Cafés. Faszinierend und beklemmend zugleich wirken die Fensteransichten und die Portraits des Bildbandes. Kaum ist zu erahnen was sich hinter dem Milchglas tatsächlich abspielt. Die Fotografien dokumentieren eine bewusste und fast schon provokante Abschottung von der Öffentlichkeit. Mit den Portraits hingegen, die den zweiten Teil des Bildbandes ausmachen, geht die Fotografin einen Schritt weiter. Die "visuelle Grenze" erscheint nicht mehr vollkommen undurchlässig. Die Männer treten nah an die Glasscheiben heran und offenbaren ihre Gesichtszüge. Schon wird die Anonymität aufgehoben und die BetrachterInnen erkennen individuelle Merkmale der porträtierten Kaffeehausgäste.
Diese Porträts waren der Fotografin besonders wichtig:
"Genommen habe ich mir auch diese Bilder, Fotografien von Fremden, von Orten, die mir nun vertrauter sind, in die ich jederzeit zum Teetrinken wiederkommen könnte. Einige Male bin ich tatsächlich zurückgekehrt, um die versprochenen Abzüge vorbeizubringen. Ein komisches Foto sei das, Kunst halt, meinte der eine zu seinem Porträt, und ein anderer war lange still, bevor er anmerkte, dass er damit erstmal klarkommen müsse."
Die aussagekräftigen Schwarz-Weiß Fotografien stehen in "Beyond" zweifelsohne im Vordergrund. Begleitet werden sie von kurzen, informativen Textpassagen. Die LeserInnen erfahren so, was Loredana Nemes an den Kaffeehäusern und Teestuben faszinierte und wie sich dem Thema künstlerisch annährte. In einem Resümee schildert die Fotografin ihre Eindrücke und Erkenntnisse und erheitert mit persönlichen Anekdoten. Der Herausgeber Janos Frecot erläutert in seinem Beitrag die Wirkung der Aufnahmen und die Besonderheiten der von der Fotografin verwendeten Kamera. Das überaus gelungene Zusammenspiel von Bild und Text ermöglicht den LeserInnen ein tieferes Verständnis der Fotografien und macht "Beyond" somit zu einem hervorragenden Bildband.
Zur Fotografin: Loredana Nemes wurde 1972 in Sibiu, Rumänien geboren. 1986 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Aachen. Nach dem Abitur studierte sie in Aachen Germanistik und Mathematik. Im Jahr 2001 zog sie nach Berlin und begann als freie Fotografin an ihrem Projekt "Behind the Curtain" zu arbeiten. 2002 reiste Loredana Nemes durch Rumänien, wo die Serie "Rumänische Gesichter" entstand. Im Jahr 2005 begann sie mit der Arbeit an dem Zyklus "Under Ground", dafür reiste sie nach London, Paris, Berlin, Moskau, New York und Bukarest. 2006 erhielt sie ein Stipendium der "Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst" für die Realisation des Projektes "Sibiu – Ein Portrait". In den Jahren 2006, 2007 und 2009 lehrte sie Fotografie an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin. Im Jahr 2008 begann sie mit der Arbeit an ihrem Projekt "Berliner Männerwelten". Die dabei entstandenen Fotografien wurden im Hatje Cantz Verlag unter dem Titel "Beyond" publiziert. (Quelle: Verlagsinformation)
Weitere Infos und Kontakt: www.loredananemes.de
Loredana Nemes Werke sind auf folgenden Ausstellungen zu sehen:
Schloss Neuhardenberg, Neuhardenberg, 8.8.–2.10.2010, "About Love", Fotografien von Loredana Nemes
www.schlossneuhardenberg.de
Museum Neukölln, Berlin, 19.11.–20.02.2011, "Beyond - Berliner Männerwelten", Fotografien von Loredana Nemes
www.museum-neukoelln.de
AVIVA-Tipp: Das Ergebnis der zwei Jahre andauernden Arbeit ist ein faszinierender fotografischer Dialog, der den BetrachterInnen kulturelle und visuelle Grenzen aufzeigt. Loredana Nemes´ Fotografien eröffnen eine Parallelwelt mitten in Berlin und dokumentieren die Neugierde einer Fotografin, die Grenzen überschreitet, um eine ihr fremde Kultur zu entdecken.
Loredana Nemes
Beyond
Mit Texten von Janos Frecot, Loredana Nemes, Gestaltung von Alexandra Zöller
Hatje Cantz Verlag, erschienen 2010
Gebunden, 112 Seiten, 42 Abbildungen in Duplex
ISBN-13: 978-3-7757-2697-9
39,80 Euro
Deutsch, Englisch
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
UNDER GROUND – Fotografien von Loredana Nemes, ausgestellt im Museum für Kommunikation Berlin (2008)