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Beitrag vom 12.12.2007
Lichte Stoffe. Wenn das nur abwaschbar wäre
Ruth Niehaus
Ihr dunkelhäutiges Baby findet sie anfangs wunderschön, später fehlt ihr dazu die Kraft – was das für drei Generationen von Frauen bedeutet, davon erzählt "Lichte Stoffe" von Larissa Boehning.
Der II. Weltkrieg ist vorbei. Chaos und Not herrschen und um ihren Hunger zu stillen, tun die Menschen alles Erdenkliche. Leute schicken ihre heranwachsenden Töchter zu den GIs mit dem Auftrag, nicht ohne Essbares wiederzukommen. Die Töchter gehorchen, so haben sie´s gelernt. So steht auch Gudrun, Kind einer strengen Berliner Hutmacherin vor einer Küchentür, mit kirschroten Lippen und einem Hütchen, das sie mangels Nadel festhalten muss. Das aufgeputzte Elendsbild verfehlt seine Wirkung nicht, das Mädchen bekommt Brot und dies nicht nur einmal. Die Zuneigung des mitleidigen Soldaten verstärkt sich - die beiden kommen zusammen. Das schweigsame Lächeln des überforderten Mädchens deutet er als Einverständnis.
Brot, so die Weisung der "Generalin" genannten Mutter sollte sie mitbringen, aber kein dunkelhäutiges Enkelkind. Eine Liebesgeschichte mit einem farbigen GI gehört zum Undenkbaren. Das Mädchen bringt nicht die Kraft auf, ihm zu folgen, zu groß ist die Verachtung, die ihr von allen Seiten, besonders von der Mutter entgegenschlägt. Die kleine Evi, von ihren Altersgenossen gern "Brikett" genannt, wächst also ohne Vater auf und spezialisiert sich aufs Unsichtbarwerden.
Was nun beginnt, ist ein stilles Drama um Verdrängung, Scham und Sehnsucht und einer seltsamen Lähmung. Es bestimmt in unterschiedlichen Spielarten das Familienleben über Jahrzehnte.
Gudrun, das gefallene Mädchen, fügt sich in die Verhältnisse. Gelähmt von der Verachtung der Mutter, wird sie erst gegen Ende ihres Lebens ihrem Herzen Luft machen und die ganze Wahrheit auf Tonbändern festhalten. Die Aufnahmen sind eigentlich für Evi bestimmt, geraten aber nach Gudruns Tod der Enkelin Nele in die Hände. Die Großmutter erwähnt auch ein wertvolles Bild, einen Degas, das der GI in einem Beutekunstlager der Nazis an sich bringt, seiner Geliebten schenkt und es dann doch mit nach Amerika nimmt.
Evi sehnt sich Zeit ihres Lebens danach, den verschollenen Vater in Amerika zu suchen. Allein die Möglichkeit, noch Teil seiner Gedanken zu sein, spendet Trost. Innerlich weiß sie aber, dass sie nie den Mut aufbringen wird aufzubrechen. Stattdessen versucht sie, "mit Geschäftigkeit den bewegungslosen Kern ihres Lebens vergessen" zu machen.
Nur Nele, Evis Tochter, immer darauf bedacht, nicht die "Kopie eines solchen Lebens" in Verharrung und Selbstbeschränkung zu sein, hat es über den großen Teich geschafft.
Nele ist es auch, die sich, ausgelöst durch die Tonbänder, auf die Spuren des Großvaters und dem unausgesprochenen Teil der Familiengeschichte macht. Die Begegnung findet tatsächlich statt und ist vor dem Hintergrund der minutiös ausgeleuchteten Frauengeschichten stark ernüchternd. Der alte Herr, der dort schwer augenkrank im Sessel sitzt, geht auf seine Weise mit der Erinnerung um und streitet jede familiäre Verbindung mit Nele ab. Der Degas, Symbol für alle möglichen unerfüllten Sehnsüchte, dekoriert im Hintergrund als unwirksamer Beweis die Wand. Wieder in Deutschland, sieht sich Nele veranlasst, der Mutter gegenüber kleine, aber wesentliche Veränderung des tatsächlich Erlebten vorzunehmen. So ist am Ende eine Lüge eher geeignet, den Schmerz der Mutter zu lindern.
Der Roman beginnt mit dem Rückflug von Nele nach Europa. Zwischen dem Besuch der Mutter im letzten Kapitel und der Flugzeugsituation im ersten, widmet sich die Erzählerin kapitelweise mit psychologisch geschulter, stellenweise frappierender Präzision der Befindlichkeit ihrer Figuren und der Umgebung, in denen diese sich bewegen.
Für den Gefühlscocktail aus Sehnsucht nach Liebe und Heimat, ängstlichen Vermeidungen und Verharrungen, finden sich variantenreich gestaltete Metaphern, die mit den Begriffen "Licht" und "Stoff" spielen und so für eine manchmal etwas bemühte motivische Verbindung zwischen den Kapiteln sorgen.
So erträumt sich Evi als Kind ein "Kleid aus lichtem Stoff", das ihr Vater für sie kauft, bevor er sie mit nach Amerika nimmt, sammelt unter dem Ateliertisch ihrer Mutter Stoffreste und Fäden, fertigt daraus Puppen. "(…)Stich um Stich, Naht für Naht dem väterlichen Verschwinden etwas entgegenzusetzen, was bleibt". Im letzten Kapitel sinniert Nele darüber, dass sich ihre Mutter "festgenäht" hätte, um an einem vermeintlich sicheren Ort bleiben zu können.
Zur Autorin: Larissa Boehning wurde 1971 in Wiesbaden geboren, aufgewachsen ist sie in einem Hamburger Vorort. Studium der Kulturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Hamburg und Berlin. Für eine Geschichte aus "Schwalbensommer" erhielt sie 2002 den Literaturpreis Prenzlauer Berg, der gleichnamige Erzählband erschien 2003 bei Eichborn. (Quelle: Eichbornverlag)
Lesen Sie auch unsere Rezension zu "Schwalbensommer".
AVIVA-Fazit: Vergangenheit und Gegenwart einer Familie sind kunstvoll verwoben, das Bemühen um genaueste Zeichnung auch der kleinsten Gefühlsregung der Figuren wirkt jedoch manchmal etwas ermüdend. Die geneigte Leserin möchte schließlich selbständig mitdenken und auch mal eigene Schlüsse ziehen. Dabei ist das Thema der Kriegseinflüsse, die das Geschick von Familien bis heute beeinflussen alles andere als ein alter Hut, besonders, wenn es um das Leben Afrodeutscher in der Nachkriegszeit geht.
Larissa Boehning
Lichte Stoffe
Eichborn Verlag, erschienen August 2007
ISBN 3821807377
Hardcover, 325 Seiten
19,95 Euro