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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.10.2006


Chuzpe
Sarah Ross

Lily Brett ist zurück, und zwar mit einem erquickenden Roman, in dem Edek Rothwax das Leben seiner Tochter Ruth mit polnischen Frauen und Fleischbällchen auf den Kopf stellt. Ein umwerfendes Buch!




Treue Fans der Autorin Lily Brett kennen Ruth Rothwax und ihren Vater Edek bereits aus dem Roman "Zu viele Männer". Nun hat sie die neurotische New Yorkerin und ihren eigensinnigen Vater erneut in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt. In dem neuen Buch "Chuzpe" prallen nicht nur Vater und Tochter, sondern auch New Yorker Neurosen und Fleischbällchen sowie Juden und Polen aufeinander. Dieses scheinbar unheilvolle Chaos ist das Herzstück einer erfrischenden "Geschichte ernster Irrungen und komischer Wirrungen", die nur Lily Brett im Stande ist zu entwirren. Bretts jüngster Roman steckt voller Witz und Eleganz und ist zudem das bisher wohl heiterste und charmanteste Buch der Schriftstellerin.

Die Australierin Ruth Rothwax ist polnisch-jüdischer Abstammung, Mitte Fünfzig, führt mit dem bekannten Maler Garth eine glückliche Ehe, hat drei erwachsene Kinder, bewohnt ein Loft in SoHo und ist Geschäftsinhaberin von Rothwax Correspondence, eines sehr gut gehenden Korrespondenzbüros in New York City. Und dennoch bleibt ihre Hauptbeschäftigung die, sich tagein tagaus um Gott und die Welt Sorgen zu machen. Sie sorgt sich zuallererst um ihre Figur, dann ihren Ehemann (der für sechs lange Monate einen Auftrag in Australien angenommen hat), die mangelnde Solidarität unter Frauen (der sie mit der Gründung einer Frauengruppe entgegentreten will) und natürlich um ihren 87-jährigen Vater Edek. Besonders als Edek von Melbourne nach Manhattan zieht, ist sie um die Ausgestaltung seines - ursprünglich ruhig angedachten - Lebensabends bekümmert.

Während Ruth ihrem Vater einen Lesezirkel, Massagen, Schwimmunterricht oder die Mitgliedschaft in einem jüdischen Seniorenclub vorschlägt, wirft er ihr lediglich ein keckes "Schmonzes" (Unsinn) entgegen und hat derweil schon eigene Pläne geschmiedet. Zunächst erlaubt Ruth Edek ihr in ihrer Firma zur Hand zu gehen. Gerade als sie an einer Erfolg versprechenden Grußkartenserie arbeitet, tritt Edek seine Stelle als Leiter der "Vorwärtsabteilung" an. Doch schon bald stellt sich der 87-Jährige als eine unkontrollierbare Größe heraus, die Rothwax Correspondence langfristig schaden wird. Täglich bestellt er Unmengen von Papier und Büroklammern, löscht wichtige Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und beleidigt die Kunden. Zwar treibt Edek seine Tochter mit seinem unbändigen Eifer in den Wahnsinn, doch weiß diese noch nicht, dass ihr Vater alles andere als einen ruhigen Lebensabend anzustreben beabsichtigt, als er sich schließlich aus Ruths Firma zurückzieht.

Zwei weitere Bekannte aus "Zu viele Männer" erscheinen auf der Bildfläche. Gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen, nisten sich die Witwen Zofia und Walentyna, die sie beide auf einer früheren Reise in Edeks alte Heimat Polen kennen gelernt hatten, in der Wohnung und das Leben ihres Vaters ein. Besonders die dralle Zofia, eine femme fatal mit Furcht erregender Oberweite, ist Ruth schon damals ein Dorn im Auge gewesen. Die "junge Frau" (69) verdreht dem munteren Senior so den Kopf, dass er später mit ihr ein Verhältnis eingeht. Als sei das nicht schon Aufregung genug für Ruth, die laut ihres Vaters eh keine "ruhige Type" ist, muss sie schon bald um ihr Erbe und um ihre Nerven bangen.

Das polnisch-jüdische Triumvirat (Edek, Zofia und Walentyna) plant die Eröffnung eines Restaurants an der Upper East Side, das auf polnische Fleischbällchen spezialisiert ist und von Ruth finanziert werden soll! Edeks kluge Tochter steckt in der Klemme: Alle drei haben - gemäß New Yorker Standard - weder ein überzeugendes Konzept noch eine berauschende Location für das geplante Projekt, geschweige denn eine gut funktionierende PR. Alles scheint von vorne herein zum Scheitern verurteilt, doch Ruth bringt es nicht übers Herz, ihrem Vater diesen Wunsch auszuschlagen. Und so wachsen mit dem gedeihenden Fleischklopsimperium auch Ruths Sorgen.

Während die Planungen voranschreiten und die Eröffnung von "Klops braucht der Mensch" in unaufhaltbare Nähe rückt, fällt es Ruth sehr schwer, auch nur ein gutes Haar an den polnischen Immigrantinnen zu lassen. Und dass, wo sie gerade Mitstreiterinnen für ihre Frauengruppe gefunden hat, die Neid und Missgunst unter Frauen ein Ende setzen wollte. Und wie die Ironie des Schicksals es so will, landen Edek, Zofia und Walentyna mit Rindfleisch-Kielbasa-Klopsen, Truthahn-Kokos- und Huhn-Rosinen-Klopsen nicht nur bei ihren FreundInnen und NachbarInnen einen Volltreffer...

AVIVA-Tipp:
Lily Bretts neuer Roman erzählt die Geschichte des 87-jährigen Juden Edek Rothwax, der das letzte Kapitel seines Lebens noch einmal in vollen Zügen genießen will - auch wenn er dabei hanebüchene Risiken in Kauf nimmt und die Nerven seiner Tochter Ruth aufs Spiel setzt. Lange Zeit haben Ruths Emotionen große Wellen geschlagen, verblassten sämtliche Schwierigkeiten im Leben im direkten Vergleich mit dem Terror des Holocausts. Doch hatte sie ihre daraus resultierenden, zahlreichen Neurosen über die Jahre hinweg nahezu in den Griff bekommen, zwingt Edeks verrückte Geschäftsidee sie in die Knie. "Chuzpe" ist ohne Zweifel ein höchst amüsantes Buch mit viel Schwung und Elan. Doch während Lily Bretts Figuren windige und zugleich komödiantische Passagen durchwandern, schwingt der Grundtenor von Bretts Werken auch hier im Hintergrund mit: Ebenso wie in "Zu viele Männer" geht es auch hier um den Einfluss des Holocausts auf die sogenannte Zweite Generation.

Zur Autorin:
Lily Brett, geboren 1946 in Deutschland, 1948 Ãœbersiedlung der Familie nach Australien. Mit 19 Jahren Beginn ihrer journalistischen Arbeit bei einem Rockmagazin. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Kolumnistin. L. Brett lebt in New York.


Lily Brett
Chuzpe

Originaltitel: You Gotta Have Balls.
Ãœbersetzt von Melanie Walz.
Suhrkamp Verlag, erschienen August 2006
ISBN 3-518-41827-0
334 Seiten, gebunden
Euro 19,8090008115&artiId=5517111"



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Beitrag vom 15.10.2006

Sarah Ross