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Beitrag vom 27.10.2005
Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Ãœberlebenden
Sarah Ross
Bereits als Kind stellte Knut Elstermann seiner Tante Gerda Fragen über Auschwitz. Doch sie blieben unbeantwortet. Erst 30 Jahre später brach sie in ihrer New Yorker Wohnung ihr Schweigen.
"Gerdas Schweigen" von Knut Elstermann ist eine Reise in die Familiengeschichte des Autors, die unversehens in eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschichtsbild mündet. Fast 40 Jahre lang war die jüdische Tante Gerda aus Amerika für den Berliner Journalisten eine geheimnisumwobene Frau, die vor über 60 Jahren einmal in Ostberlin wohnte - gleich neben der Familie seiner Großmutter. Als "Tante Gerda" gehörte sie für Elstermann immer irgendwie zur Familie. Elstermanns Großmutter und deren Schwester sind mit dem Nachbarmädchen Gerda eng befreundet, bis sie 1944 von den Nazis ausgesondert und schwanger nach Auschwitz deportiert wird.
Obwohl es nach dem Holocaust niemandem erlaubt war, Gerda nach der Geschichte ihres Überlebens in Auschwitz zu fragen, brach der siebenjährige Knut Elstermann bei einem Besuch seiner Tante aus New York dieses Tabu. Er erntete nichts weiter als ein großes Schweigen.
Einige Jahrzehnte später, nach der Wende, begann der Ostberliner Autor sich mit der Geschichte seiner Familie in der Nazi-Zeit zu beschäftigen - und somit auch mit der bereits 85-jährigen Gerda Schrage. Er besuchte sie im Oktober 2004 in New York - lange Gespräche begannen - und er erfuhr Persönliches: Plötzlich begann sie über ihr Schicksal in Auschwitz, ihre Schwangerschaft unter den Augen des KZ-Arztes Mengele, über das Sterben ihres Babys, ihre Flucht und ihre Rettung zu sprechen. Gerda brach zum ersten Mal ihr Schweigen und erzählte ihre Geschichte, die sie selbst den vertrautesten Menschen in ihrem Leben vorenthalten hatte.
Selbst ihrem Ehemann und ihrem Sohn konnte sie nie von der unvorstellbaren Trauer um das tote Baby Sylvia, und der Scham, dass dieses Mädchen das uneheliche Kind eines verheirateten Mannes war, erzählen. Während sich der Autor gemeinsam mit Gerda nur langsam in das so lange Verschwiegene und Verdrängte vortastete, kam er nicht umhin, auch die eigene Familie kritisch zu betrachten.
Gerdas Erinnerungsvermögen spielte nicht immer mit. Nach und nach tauchten
bruchstückhaft Details auf, für die oft Erklärungen fehlten. Doch was immer Gerda nicht mehr wusste, versuchte Knut Elstermann durch aufwändige Recherchen in
Zusammenhänge zu bringen. Zwar wurden somit die Kreise immer größer, aber das Zentrum wurde nicht aus den Augen verloren.
AVIVA-Tipp: "Gerdas Schweigen" ist eine bewegende Geschichte über eine Holocaust-Überlebende und die Suche nach der Wahrheit - in Akten, ZeitzeugInnenberichten und der eigenen Erinnerung. Der Autor lässt Gerdas Lebensgeschichte mit der ihres Retters, der Russin, die ihr Kind im KZ stillte, und der Geschichte der eigenen Familie verschmelzen. Dabei nimmt er nicht nur selbst seinen Platz in dem Erzählten ein, sondern berichtet auch davon, wie sich im Laufe seiner Arbeit das eigene Geschichtsbewusstsein verändert hat. Eindringlich und ohne zu übertreiben beschreibt er die Ereignisse und die benennt die schlichten Tatsachen. Dennoch wird der Leser und die Leserin nie mehr als eine Ahnung von dem Unvorstellbaren bekommen, was Gerda Schrage erleben musste.
Zum Autor:
Knut Elstermann ist 1960 im Osten Berlins geboren und aufgewachsen. Er studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete bei verschiedenen DDR-Medien. Inzwischen ist er freier Moderator und Filmkritiker, vor allem für ARD, 3Sat und arte.
Knut Elstermann
Gerdas Schweigen
Die Geschichte einer Ãœberlebenden
be.bra verlag GmbH, September 2005
ISBN 3-89809-066-3
192 Seiten, 22 Abbildungen, gebunden
16,90 Euro90008115&artiId=4008096" target="blank">