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Beitrag vom 30.12.2005
Das Schweigen brechen
Sarah Ross
Die HerausgeberInnen Alexandra Rossberg und Johan Lansen beschäftigen sich in den "Berliner Lektionen zu den Spätfolgen der Schoa" mit den seelischen und psychosomatischen Folgen des Naziterrors.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland und in allen von Deutschen besetzten Gebieten über sechs Millionen Juden, darunter anderthalb Millionen Kinder, ermordet. Doch erst Ende der 1980er Jahre kam unter Klinikern in Deutschland, bzw. in der Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychologie, ein nennenswertes Interesse an den klinischen und sozialen Folgen der Schoa, bzw. an den Überlebenden des Holocausts, auf. Das Buch mit dem Titel "Das Schweigen brechen. Berliner Lektionen zu den Spätfolgen der Schoa", herausgegeben von Alexandra Rossberg und Johan Lansen, befasst sich mit den seelischen und psychosomatischen Folgen des Naziterrors und fragt nach den Konsequenzen der der Entmenschlichung für die Übriggebliebenen, die geretteten Kinder, die nächste Generation und die Gesellschaft.
International hochgeschätzte ExpertInnen geben vor dem Hintergrund ihrer großen fachlichen Erfahrung Antwort auf die Frage, was für diese traumatisierten Menschen getan werden kann. Dabei umreißen die in dem Buch zusammengetragenen Beträge eine Zeitspanne von mehr als 50 Jahren, da es auch heute, 60 Jahre nach dem Krieg, noch Spätfolgen gibt. Im Mittelpunkt der Aufsätze steht das Schweigen. Da die AutorInnen überwiegend selbst Holocaust-Überlebende sind, wissen sie, was es mit dem Schweigen auf sich hat. Zwar erhebt das Buch keinen Anspruch auf ein vollständiges Bild der klinischen Folgen der Schoa noch auf eine komplette Bibliographie, doch finden die LeserInnen hier eine breite Auswahl an Beiträgen zum Thema: Neben Aufsätzen, die ein breites Publikum ansprechen, gibt es zudem "Erfahrungs- und Forschungsberichte über Diagnostik und Behandlung von Menschen, die während langer Zeit massivster staatlich organisierter Gewalt ausgesetzt waren, sowie Ergänzendes aus dem fachlichen Umgang in den Niederlanden mit anderen Opfergruppen aus der damaligen Zeit". Dabei verzichtet dieser Band auf technisch-wissenschaftliche Themen.
Die HerausgeberInnen haben das Buch in vier Teile eingeteilt, die auf unterschiedliche Art und Weise, bzw. aus verschiedenen Perspektiven, das Oberthema "Schweigen" behandeln: Der erste Teil des Buches, "Schweigen: treuer Begleiter des Traumas", besteht aus Vorträgen für einen breiten Kreis von Interessierten. Hier befassen sich die AutorInnen, wie beispielsweise Leo Eitinger, mit dem Schweigen, bzw. der Ignoranz der Weltgemeinschaft gegenüber dem, was den Juden schon zum Beginn des Zweiten Weltkrieges geschah. Aber auch die Frage, warum geschwiegen wurde, warum man erinnert und gedenkt, wird beantwortet, und das Schicksal der Kinder thematisiert.
Der zweite Teil, "Extremtrauma: Folgen und Behandlung in mehr als einer Generation", ist eine Art Capitia Selecta aus Theorie und Behandlungspraxis der Schoa-Überlebenden. Hier sind Teilstücke aus dem Lehrstoff einer Weiterbildung für Fachkräfte bei ESRA als Lektionen abgedruckt. So beschreibt zum Beispiel Johan Lansen in seinem Kapitel "Spätfolgen" die klinischen Folgen bei Überlebenden anhand der Erfahrungen der spezifischen Hilfeleistung in den Niederlanden. Chris Barneveld hingegen setzt sich mit der "Behandlung von Verfolgten im Seniorenalter" auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt des zweiten Teil des Buches bildet die so genannte Zweite Generation.
Im dritten Teil, "Entschädigung und zeitgemäße psychiatrische Begutachtung", werden schließlich Antworten auf die Frage gegeben, wie das entschädigungspflichtige Leid der Überlebenden, besonders das der Kinder, gerecht zu beurteilen ist. Hier findet der Leser und die Leserin vor allem Beiträge von ExpertInnen psychiatrischer gutachterlicher Tätigkeit für Anerkennungsverfahren bei deutschen Entschädigungsbehörden. Im vierten und letzten Teil des Buches, "Child Survivors an ihre Schicksalsgefährten", richten dann die AutorInnen, überlebende Kinder der Schoa, Worte an ihre SchicksalsgefährtInnen. In kurzen Beiträgen berichten sie von ihren eigenen Erfahrungen und sagen, dass das Mitteilen und das Wiedererlangen der Erinnerung heilend sein kann.
AVIVA-Tipp: "Das Schweigen brechen. Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa" ist ein gelungener Band, in dem sich ExpertInnen mit dem Schweigen der Holocaustüberlebenden und den klinischen und sozialen Folgen der Schoa auseinandersetzen. Das Buch vereint gleichermaßen Beiträge, die einen eher allgemeinen Überblick über die Thematik vermitteln, mit Aufsätzen, die sich an ein Fachpublikum richten. Somit erreicht der Band einen breiten Kreis an LeserInnen. Auch wenn der Hauptaugenmerk auf den jüdischen Opfern des Naziterrors liegt, so werden dennoch auch andere Gruppen Kriegs- und Verfolgungstraumatisierter berücksichtigt. Und somit ist das Ziel dieses Buches, allen Betroffenen das Leben leichter zu machen.
Zu den HerausgerInnen:
Johan Lansen wurde 1933 geboren. Er ist Psychiater und Psychoanalytiker. Von 1981-1993 war er ärztlicher und allgemeiner Direktor des Sinai Centrums, dem in Europa größtem Zentrum zur Behandlung von Schoa-Überlebenden. Er war aktiv involviert als Berater, Supervisor und Dozent beim Aufbau von ESRA. Seit 10 Jahren arbeitet er international als Trainer und Supervisor bei Behandlungseinrichtungen für andere Gewalt- und Verfolgungsopfer.
Alexandra Rossberg wurde 1945 geboren. Sie wurde in der Psychotherapie mit Extremtraumatisierten und Gruppenanalyse ausgebildet. Zusammen mit Johan Lansen hat sie ESRA initiiert und aufgebaut. Seit 12 Jahren arbeitet sie einzeln oder in Gruppen mit Überlebenden der Schoa und deren Nachkommen. Dabei hat sie ungewöhnlicher Wege im therapeutischen Umgang mit sehr früh und schwer traumatisierten Kindern beschritten.
Mehr Informationen zu ESRA(Hebräisch für "Hilfe"), dem Psychosozialen Zentrum in Wien auf:
www.esra.at
Alexandra Rossberg/Johan Lansen (Hrsg.)
Das Schweigen brechen.
Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa
Peter Lang Verlag, 2003
ISBN 3-631-37967-6
388 Seiten, Paperback
29,80 Euro