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Beitrag vom 15.11.2005
Ein fast perfekter Augenblick. Binnie Kirschbaum
Sarah Ross
Ein scharfsinnig-melancholischer Roman über ein unbedeutendes jüdisches Mädchen aus Brooklyn, das zum Anlass für einen komischen und zugleich rührenden Muttergotteskult wird.
Die New Yorker Autorin Binnie Kirschbaum entführt uns in ihrem Roman "Ein fast perfekter Augenblick", der nun in deutscher Übersetzung bei dtv erschienen ist, auf die faszinierendste Art und Weise in die Welt der Reinkarnation. Die Geschichte des jüdischen Mädchens Valentine, das, als es das Ave Maria aus der offenen Tür einer Kirche hörte, eine fatale Berufung spürte, erzählt die Autorin in spannenden Szenen von filmischer Dichte, die es vermögen, in müheloser Leichtigkeit die Phantasie der LeserInnen zu entzünden. Dabei nimmt die Handlung immer neue und unvorhersehbare Wendungen.
Brooklyn in den 1970er Jahren: Die fünfzehnjährige Valentine Kessler lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter Miriam zusammen, die vor Kummer über den davongelaufenen Vater ihres Kindes recht füllig geworden ist und ihren einzigen Trost im Mah-Jongg-Spiel mit ihren drei Freundinnen findet. Obwohl Valentine eine Schönheit ist, die von ihrer Umgebung verehrt wird, scheint sie dennoch auf den ersten Blick ein unbedeutendes, jüdisches und leicht flatterhaftes Mädchen zu sein. Bis auf die Tatsache, dass sie ihren eigenen Traum verfolgt: Obwohl sie als Jüdin geboren wurde, durchläuft das Mädchen eine sonderbare Reinkarnation. Mit aller ihrer zur Verfügung stehenden Macht versucht Valentine sich in die Jungfrau Maria zu verwandeln – samt dem blauen Schal über ihrem Haupt.
Ihr neues Dasein als Jungfrau Maria, das durch eine unerklärliche Fügung des Schicksals zustande kam, scheint die Träume und Hoffnungen der Menschen um sie herum schlagartig zerschellen zu lassen: In ihrer Vernarrtheit in den Katholizismus wagt es Valentine endlich, sich ihrem polnischen Mathematiklehrer John Wosileski hinzugeben, in den sie schon eine lange Zeit verliebt ist – und das ausgerechnet an dem Tag, als er einer Lehrerkollegin eine Verlobung antragen will. John Wosileski ist ein hässlicher Sonderling, der in tiefer Einsamkeit lebt, und die einzige Hoffnung für Joanne Clarke auf ein normales Leben. Joanne ist ebenfalls Lehrerin an Valentines High School und führt ein ebenso erbärmliches Leben wie John: ihr Gesicht ist von Akne zerfressen und einen Großteil ihrer Freizeit verbringt sie mit der Pflege ihres geistesschwachen Vaters.
Während Valentines Begegnung mit ihrem Lehrer katastrophal endet, da sie geschwängert wird aber dennoch nach wie vor Jungfrau bleibt, wird nicht ihr eigenes Schicksal, sondern das ihrer Mitmenschen besiegelt.
AVIVA-Tipp: Binnie Kirshenbaums Roman ist einerseits ein sehr lebensnahes Abbild von Liebenden, die unter einem schlechten Stern stehen, von Müttern und Töchtern, der Lehre des Göttlichen und einer überaus bunten jüdischen Gemeinde, die einst das Bild von Brooklyn bestimmte. Andererseits ist "Ein fast perfekter Augenblick" eine scharfsinnige, sorgenvolle und zugleich urkomische und satirische Novelle, die Fragen über den Glauben aufwirft und mit der möglichen Existenz von Wundern spielt, wobei der Blick auf die Realität nie abhanden kommt. Mit viel Chuzpe und einer ausgezeichneten Klarheit stellt die Autorin biblische Geschichten und Großstadtsitten auf den Kopf und erzählt eine fröhlich stimmende Geschichte von einer lebenden Gottheit. Dabei sind selbst die Nebenfiguren überaus gut gezeichnet.
Zur Autorin:
Binnie Kirschbaum lebt in New York. Bekannt geworden ist sie unter anderem mit ihren Romanen wie "Ich liebe dich nicht und andere wahre Tatsachen" (dtv 11888), "Kurzer Abriß meiner Karriere als Ehebrecherin" (dtv 12705) oder "Mermaid Avenue" (dtv 12787).
Binnie Kirschbaum
Ein fast perfekter Augenblick
Originaltitel: An almost perfect moment
Deutsche Ãœbersetzung von Patricia Reiman
dtv, Oktober 2005
ISBN 3-423-24490-9
355 Seiten, Klappenbroschur
14,50 Euro90008115&artiId=3563795"