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Beitrag vom 27.08.2005
Zwei Bücher über das beschädigte Leben nach sexualisierten Übergriffen
Karin Effing
"Schrei" von Hélène Duffau und "Claire. Protokoll einer Abhängigkeit" - die Autorin möchte anonym bleiben - geben Einblicke in die fatalen Folgen von Gewalt auf die Seele und den Alltag. Beklemmend
Täglich lesen wir in der Zeitung oder hören in den Nachrichten von gewalttätigen Übergriffen. Sobald es zur juristischen Verhandlung kommt, treten die TäterInnen ins öffentliche Interesse. Ihr soziales Milieu wird dann beleuchtet, ebenso ihre psychische Verfassung. Trotz Gender-Mainstreaming wird außerdem eines der offensichtlichsten Gemeinsamkeiten fast aller TäterInnen so gut wie nie thematisiert und damit eine weitergehende Analyse verhindert: das Geschlecht. Die überwiegende Zahl der GewalttäterInnen sind Männer.
Das Opfer tritt dabei in der Wahrnehmung der Gesellschaft meist hinter den TäterInnen zurück.
Dazu kommt, dass viele Betroffene schweigen, entweder aus Scham oder weil die Tat schon so lange her ist, dass eine Verurteilung nicht mehr möglich wäre.
Damit sind sie allein mit dem Geschehen. Die Gesellschaft bietet ihnen keine Möglichkeiten an, das Erlebte zu bearbeiten und zu integrieren. Es wird geradezu in einer Art Machbarkeitswahn erwartet, dass die Opfer eine Therapie machen, das Geschehene verarbeiten und dann wieder funktionsfähig sind. Dass Heilung in dem Sinne gar nicht immer möglich ist, zeigen die beiden schmalen Bände "Schrei" und "Claire - Protokoll einer Abhängigkeit":
Letzterer schildert in Rückblenden den sexuellen Missbrauch durch einen befreundeten Mann der Familie in der Kindheit der Autorin. Wie in "Schrei" liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf den Folgen der Verletzungen im Alltag der erwachsenen Frauen. Ausgangspunkt bildet die immer näherrückende Verabredung mit dem Täter, dem Metzger. Nach Jahren möchte die Protagonistin sich dem Täter stellen. Hannah, ihrer Therapeutin, hat sie davon nichts gesagt, denn sie hätte sie nur von diesem Vorhaben abgehalten. Und wohl mit Recht, denkt die Leserin, die einen Blick in die verdrehte Innenwelt des Gewaltopfers werfen darf, in der das Opfer schuldig ist und nicht der Täter und die Übergriffe als Normalität empfunden werden. Gerade Kinder kennen ja nichts anderes und können sich kein eigenes Urteil bilden, sie sind den Erwachsenen und ihrer Sicht ausgeliefert. Außerdem wächst Claire in einer Umgebung absoluter Gleichgültigkeit auf. In den Ferien fährt sie zu Oma und Opa, im großväterlichen Betrieb arbeitet der einzige Mensch, der ihr Aufmerksamkeit und Zuwendung gibt, der Täter. Er nimmt sie in den Arm, nennt sie "Meine kleine Schöne" und lächelt sie an. Das Kind sehnt sich nach seiner Zuwendung. Nimmt die sich steigernden Übergriffe hin. Läuft ihm nach. Braucht seine Liebe. Kann seine Ablehnung nicht ertragen. Kein Kind kann ohne Zuwendung leben. Es gibt niemand anderen, die/der sie wahrnimmt.
Die erwachsene Frau fühlt sich durch die Sehnsucht nach der Zuwendung des Täters schuldig. Nur mit Hilfe der Außensicht ihrer Therapeutin kann sie sich klar machen, dass der Täter ihre emotionale Bedürftigkeit ausgenutzt hat. Und nur gegenüber ihr kann sie sich langsam, sehr langsam, öffnen. Warum sollte sie je wieder jemandem trauen, wenn die einzige Erfahrung mit einem nahen Menschen die ist, die sie mit dem Metzger gemacht hat?
"Schrei" von Hélène Duffau beschreibt ebenfalls den Alltag einer erwachsenen Frau, deren Leben durch Gewalt zerstört wurde. Ihre namenlose Icherzählerin wurde Opfer einer Massenvergewaltigung, nun lebt sie zurückgezogen in ihrer Wohnung, die sie möglichst nicht mehr verlässt. Das Essen lässt sie sich liefern, Kleidung bestellt sie sich per Katalog, den Gang der Welt "da draußen", weit weg von dem Leben, das sie führt, verfolgt sie durch Zeitungslektüre.
Auch sie ist gezeichnet. Fremd in ihrem Körper, den sie wäscht und nach Malen absucht. Sex ist für sie untrennbar mit Schmerz und Gewalt verbunden. Claire nimmt Schmerzmittel, um Sex haben zu können, den sie glaubt, anderen geben zu müssen, egal wie es ihr dabei zumute ist. Die Protagonistin in "Schrei" hat einen anderen Weg gefunden, um eine Sexualität zu leben, die sie nicht als bedrohlich empfindet, aber auch nicht als lustvoll. Sie schläft mit Männern in einem gemieteten Dienstbotenzimmer und zapft ihnen Sperma ab, um es mit Datum und Uhrzeit beschriftet in einer Glasphiole zu horten und später zu kochen und zu horten. Das ist verstörend und auch nicht unbedingt nachvollziehbar, macht aber damit eine der Stärken des Textes aus. Denn tatsächlich ist ja nicht alles erklärbar, auch nicht psychologisch. Menschen und ihre Motive sind eben nicht ganz und gar zu verstehen und zu erklären.
Jedes der Kapitel beginnt mit einem Zitat. Viele stammen aus bekannten Songs. Dadurch wirft die Autorin einen Anker in die Welt hinaus. Das Private wird so an das Allgemeine, das Opfer an die Gesellschaft wieder angebunden.
Der Band "Claire- Protokoll einer Abhängigkeit" - 2001 zunächst im Rüffer&Rub Sachbuchverlag erschienen, 2003 bei Piper neu aufgelegt - kann seit Januar 2005 auch als Hörbuch erstanden werden.
AVIVA-Tipp: Die beeindruckenden und verstörenden Bücher "Schrei" von Hélène Duffau und "Claire - Protokoll einer Abhängigkeit" einer nicht genannten Autorin zeigen das Leben danach, das zerstörte Leben nach der Gewalt, in einer präzisen Sprache und stilistischen Kälte. Sie tauchen ganz in das Innnere ihrer Figuren und ihrer Welt ein, die durchgängig von den erlittenen Übergriffen geprägt ist.
Claire. Protokoll einer Abhängigkeit
Rüffer&Rub Sachbuchverlag, September 2001
19,60 Euro
ISBN: 3-907625-07-2
Gebunden, 117 Seiten
Claire. Protokoll einer Abhängigkeit
Piper Verlag, Mai 2003
7,90 Euro
ISBN: 3-492-23785-1
Kartoniert, 128 Seiten200642876275"
Claire. Protokoll einer Abhängigkeit
Vorgelesen von Katja Tippelt
Hoerbuch Hamburg, Januar 2005
16,90 Euro
ISBN: 3-89903-199-7
Compact Disc200737330988"
Hélène Duffau
Schrei!
Aus dem Französischen Brigitte Große
Eichborn Verlag, erschienen Juli 2005
15,90 Euro
ISBN: 3-8218-5741-2
115 Seiten, gebunden200352147875"