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Beitrag vom 10.05.2004
Leben zwischen den Geschlechtern
Anne Winkel
Die Wissenschaftsjournalistin Ulla Fröhlich stellt Erfahrungen intersexueller Menschen vor. Ergänzt werden die Berichte durch ExpertInneninterviews, Informationen zur Genetik und einem Service-Teil
"Intersexualität ist eines der letzten Tabus", obwohl nach vorsichtigen ExpertInnenschätzungen mindestens eins von 1000 Neugeborenen nicht eindeutig weiblich oder männlich ist. Auch (Nicht)Entwicklungen während der Pubertät sind möglich. "Jahrzehntelang landeten diese Kinder auf dem Operationstisch". Ein drittes Geschlecht wird gesellschaftlich - wenn überhaupt - nur sehr langsam anerkannt.
Im November 2003 ist das erste populärwissenschaftliche Buch zum Thema Intersexualität erschienen. Ulla Fröhlings Werk richtet sich an Familien und erwachsene Betroffene, an MedizinerInnen und PsychologInnen, an Genderinteressierte und an "Menschen mit Interesse an Lebensgeschichten". Dargestellt werden in drei Hauptteilen die Erfahrungen von Erwachsenen und Kindern, ExpertInnenmeinungen, sowie als "mögliches Modell: Patenschaften". Abgerundet wird der Band mit einem kurzen Glossar und Adressen renommierter Beratungs- oder Informationsstellen.
Nach Einschätzung der Autorin stellt ihr Buch "mehr Fragen, als es Antworten geben kann". Kann man einen Menschen zu einem Geschlecht erziehen? Geben die Gene das Geschlecht vor oder die äußeren Erscheinungsmerkmale? Müssen sich Intersexuelle für ein Geschlecht entscheiden? Was unterscheidet Intersexuelle von Transsexuellen?
Die Verfasserin macht auf gesellschaftliche, psychische und medizinische Probleme aufmerksam. Lange wurde angenommen, dass die operative Herstellung eines eindeutigen Geschlechts das Leben der Intersexuellen "normalisieren" würde. Die emotionalen Konsequenzen wurden dabei ignoriert: So fehlt nach wie vor eine umfassende Forschung zur Lebenszufriedenheit der Menschen "zwischen den Geschlechtern". Auch juristische Probleme des Schutzes vor falschen Behandlungen werden angesprochen, denn die Rechtsordnung setzt eine eindeutige Geschlechtszuordnung voraus.
Genähert hat sich Ulla Fröhling dem Tabuthema auf selbstkritische Weise. Unter Bewusstmachung der eigenen (und gleichzeitig gesellschaftlichen) Vorurteile begegnet sie ihren InterviewpartnerInnen. Schnell erkennt die Journalistin: Es gibt nicht "den Intersexuellen". "Die Entwicklungen sind unterschiedlich, die Auswirkungen auch. Die Lebenswege ebenfalls". Einigen dieser Lebenswege spürt die Autorin nach. Zu Wort kommen unter anderem eine 61jährige Dozentin, die tiefe Verzweiflung äußert und doch ein Lachen hat, das " Lebensfreude" verheißt, eine 34jährige Sozialtherapeutin, die das Wachstum eines Penis in ihrer Pubertät nicht als schockierend, sondern als interessant empfand oder auch Raina/Rainer Haller, der/dem die Entwicklung der eigenen Brüste äußerst suspekt war und erst nach Aufforderung einer Sportlehrerin einen BH kaufte.
Eine gewisse Ironie gegenüber der eigenen Geschichte haben die erwachsenen Intersexuellen trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit gemeinsam. Alle Lebenswege sind geprägt von Verdrängung und dem Wunsch, nicht irgendwie anders zu sein. Zugehörige des "dritten Geschlechts" möchten einfach nur als Menschen gesehen werden und nicht als das "nette Exemplar" für diverse MedizinstudentInnen. Die Kinder, die nicht zu einem Geschlecht gezwungen werden, empfinden sich als gesund, wie das Beispiel der 5jährigen Kerstin zeigt, die darauf hinweist, dass ihr Bruder, derjenige ist, der krank ist, "schließlich hat er einen Husten".
Kritisch vorgestellt werden vergangene und gegenwärtige medizinische Herangehensweisen. Noch in den 1980er Jahren waren MedizinerInnen davon überzeugt, dass es ausreiche, ihre PatientInnen "beischlaffähig" zu machen. Die fortschrittliche Medizin nimmt dagegen auch Rücksicht auf die mit der Sexualität verbundenen Gefühle.
AVIVA-Tipp: zeigt die besondere Problematik der Identitätsfindung von intersexuellen Menschen in einer sehr persönlichen Dimension. Unterstützt wird der biographische Ansatz von Stimmen aus der Psychologie, Medizin und Sexualforschung. Ulla Fröhling möchte aufrütteln, denn "nicht der Intersexuelle ist das Problem, sondern die Gesellschaft".
Zur Autorin:
Ulla Fröhling (Jahrgang 1945) studierte Soziologie, Anglistik und Publizistik in Hamburg und Dublin. Nach 15 Jahren als Redakteurin, Ressortleiterin und Autorin bei Time-Life, Brigitte und Cosmopolitan arbeitet die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin für ARTE, WDR, NZZ-Folio und Die Zeit. Ihre Schwerpunkte sind Erinnerungsforschung, Traumatologie und gesellschaftliche Tabus wie Inzest und Langzeitfolgen sexueller Gewalt. Außerdem hat sie sich als Autorin ironisch-erotischer Kurzgeschichten einen Namen gemacht.
Leben zwischen den Geschlechtern
Intersexualität - Erfahrungen in einem Tabubereich
Ulla Fröhling
Erschienen im Linksverlag, Berlin, 2003
240 Seiten
ISBN 3-86153-290-5
14,90 Euro
www.linksverlag.de