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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.04.2003


Joyce Carol Oates: Unter Verdacht – Die Geschichte von Big Mouth und Ugly Girl
Gaby Miericke-Rubbert

Eine Geschichte über feuerrote Stimmungen und pechschwarze Launen, über Bombendrohungen, Verrat und dicke Freundschaften an der Rocky River High School




Irgendwann, mitten in der Pubertät und im amerikanischen Provinznest Rocky River, hatte Ursula Riggs beschlossen, Ugly Girl zu werden: unverwundbar, stark, unangreifbar, kompromißlos, eine Kriegerin eben. Sehr zum Mißfallen ihrer Mutter und Großmutter wuchs sie unaufhaltsam, bis sie die Größe ihres Vaters erreicht hatte und sie nicht mehr wie ein Kind behandeln werden konnte.

Ursula, alias Ugly Girl hatte nicht viele Freunde, “aber das gehörte in die Rubrik langweilige Tatsachen.“ Sie würde sich zukünftig vor niemandem mehr klein machen und sich unter keinen Umständen selbst verleugnen. Und mit sprücheklopfenden Jungen und ihrem sexistischen Imponiergehabe wollte sie schon gar nichts zu tun haben.

Ursula war bisher eine ausgezeichnete Schülerin, ein ernsthaftes Mädchen mit Interesse für Biologie und Kunst. Ugly Girl hingegen war unangepaßt, einzelgängerisch, störrisch, sarkastisch, launisch. Eine äußerst talentierte Basketballspielerin und dank ihrer feuerroten Stimmung eine energiegeladene und unbesiegbare Einzelkämpferin auf dem Spielfeld. Aber auch Ugly Girl war nicht gegen die Düsternis von pechschwarzen Gefühlseinbrüchen gefeit, die sie durch stundenlanges Joggen durch die Einsamkeit zu überwinden suchte, laufen bis kurz vorm Umfallen, aber Ugly Girl brach ja nicht zusammen, niemals!

So scheint es naheliegend, dass Ugly Girl genau die Richtige war, um Matt Donaghy zu helfen. Matt, ein Schüler aus Ursulas Jahrgang an der Rocky River High School, steckte wegen seines großen Mundwerks, Big Mouth , in enormen Schwierigkeiten. Das hatte nämlich in seiner lockeren, schnellen, unbedachten Art unter Freunden in der Schulcafeteria eine natürlich nicht ernst gemeinte Bombendrohung gegen Schule und Lehrer ausgesprochen.

Und nun wurde für Matt ein Albtraum Realität: von Mitschülern denunziert wurde er von der Schule suspendiert, von der Polzei verhaftet und verhört. Presse und Fernsehen verkündeten in großen Lettern die Mär vom jugendlichen Beinahe-Attentäter und keiner wollte Matt glauben, dass einfach nur Big Mouth mit ihm durchgegangen war und, wie so oft, einen coolen Spruch zur Belustigung seiner Freunde loslassen wollte.

Da tritt Ugly Girl auf den Plan. Mit Abscheu beobachtet sie, wie Matt von allen Seiten, besonders von seinen besten Freunden, im Stich gelassen wird. Und das passiert Matt, einem äußerst beliebten Schüler, Jahrgangssprecher mit einem schnellen Lächeln und durchschnittlicher Note A. Ursula kann die Massenhysterie und schnelle Bereitschaft zu Denunziation und Diskriminierung nicht fassen. Und für Ugly Girl, die furchtlose Kämpferin, ist es selbstverständlich, durch ihre Zeugenaussage Matts spaßhafte Äußerungen wieder ins rechte Licht zu rücken. Nicht aus Freundschaft, sondern aus Prinzip.

Aber obwohl die Beschuldigungen zurückgenommen werden, ist die Masse, die in Matts Umgebung so bereitwillig auf Feindseligkeit geschaltet hatte, nun träge und reagiert nicht auf die entlastende Wendung der Ereignisse. Alle verharren weiterhin in ihrer distanzierten und ablehnenden Haltung Matt gegenüber. Als Matts Vater durch eine Diffamierungsklage den Ruf der Familie wieder herstellen möchte, eskalieren die Ereignisse.

Es ist schön mitzuverfolgen, wie die beiden Außenseiter Big Mouth und Ugly Girl aufgrund der widrigen Umstände zueinander finden und ihre beginnende Freundschaft ihnen hilft, ihre Schutzpanzer langsam zu öffnen. Und am Ende sind die Protagonisten aus ihren Kokons geschlüpft: Ursula und Matt sind zum Vorschein gekommen.

Die pubertären Gefühls- und Handlungswelten der beiden sind äußerst sensibel und treffend schnoddrig dargestellt. Umso mehr verwundert die plakative Schwarz-Weiß-Malerei, wenn es um die Reaktion des Umfelds Schule, Freunde und Nachbarschaft geht. Die Schwere, mit der die Suppe hier eingebrockt war, läßt die Leichtigkeit, mit der sie letzten Endes sich beinahe von allein auslöffelt, unrealistisch erscheinen.

Angesichts der schulischen Amokläufe der jüngsten deutschen und amerikanischen Vergangenheit bietet die hochaktuelle Geschichte reichlich Zündstoff für kontroverse Diskussionen über Freundschaft und Familie, Loyalität und Verrat, Anpassung und Individualität.



Joyce Carol Oates
Unter Verdacht
Carl Hanser Verlag, 2003
ISBN: 3-446-20302-8
Preis: 14,90 Euro

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Beitrag vom 22.04.2003

AVIVA-Redaktion