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Beitrag vom 28.08.2003
Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen
Jana Scheerer
Halinka ist 12 Jahre alt und wohnt im Heim. Dort ist das Überleben nicht einfach. Und Freundschaften stören da nur. Oder doch nicht? Mirjam Pressler erzählt eine traurige Geschichte voller Hoffnung.
Was mit ihrer Mutter los ist, weiß Halinka nicht. Sie hat getrunken und Halinka geschlagen. Menschen, die Schlechtes erlebt haben, können selbst schlecht werden, sagt Tante Lou. Halinkas Mutter hat Schlimmes erlebt. Sie ist polnische Jüdin. Es ist 1952. Seit zwei Jahren ist Halinka im Heim.
Im Heim geht es ums Überleben. Wer am stärksten ist, bekommt die meisten Kartoffeln und wer Schwäche zeigt, wird das Opfer ständiger Sticheleien. Halinka passiert das nicht mehr, sie kennt sich inzwischen aus mit dem Leben im Heim.
Nicht so Renate, eines der sieben Mädchen, mit denen Halinka das Zimmer teilt. Jeden Abend weint Renate sich in den Schlaf. Halinka weiß nicht warum, und zunächst ist es ihr auch egal. Gefühle erlaubt sie sich nur ihrer Tante Lou gegenüber. Bei ihr möchte sie gerne leben, doch das Jugendamt erlaubt das erst, wenn Tante Lou verheiratet ist.
Als die Heimkinder zu einer Sammelaktion für das Müttergenesungswerk aufgerufen werden, reagieren sie zunächst reserviert: Für ihre Mütter ist dieses Geld bestimmt nicht gedacht! Halinka zieht mit einer Büchse los. Und siehe da: Das Sammeln läuft gut, und ganz nebenbei fällt für Halinka auch noch etwas dabei ab.
Denn wer am meisten sammelt, bekommt am Schluss der Aktion einen Preis. Halinka nimmt sich diesen Preis schon vorher: Mit einer Schere trennt sie den Draht der Büchse auf und nimmt zehn Mark für die Fahrt zu Tante Lou heraus. Trotzdem ist ihre Büchse die schwerste und vollste - und tatsächlich gewinnt Halinka den Preis.
Halinkas Geschichte ist voller Verständnis und Einsicht in die Psyche dieses zwölfjährigen Mädchens erzählt. Besonders Erfrischend ist die Abwesenheit des moralischen Zeigefingers: Halinka stiehlt Geld aus der Büchse und bekommt trotzdem auch den Preis für die höchste Sammelsumme - denn gut und böse werden hier nicht auf "strafrechtlicher", sondern auf emotionaler Ebene verhandelt.
Tief beeindruckend ist auch der Einblick in die Welt des Mangels, in der diese Mädchen aufwachsen - emotional und materiell. Wenn Halinka gut angezogene Kinder an der Hand der Eltern sieht, wird sie unendlich wütend. Und ihr Staunen beim Anblick eines Schlossparks berührt genauso wie ihr Genuss eines Wiener Würstchens.
Mirjam Pressler ist 1940 in Darmstadt geboren und besuchte die Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in München. "Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" wurde mit dem Zürcher Jugendliteraturpreis "La vache qui lit" ausgezeichnet.
Halinka prügelt sich schließlich mit einem anderen Mädchen, um Renate zu schützen. Damit verschafft Halinka sich Respekt und öffnet sich für Renates Freundschaft. Denn in Person der kleinen, schwachen und zärtlichen Renate kommt das Glück - und Halinka stellt ihm einen Stuhl hin.
Mirjam Pressler
Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen
Beltz & Gelberg, 1998
ISBN 3 407 78293 4
Paperback, 209 Seiten
Euro 7,90
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