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Beitrag vom 20.07.2009
Gisela Elsner - Fliegeralarm
Silvy Pommerenke
Drei Jahre vor ihrem Tod schrieb die "Humoristin des Monströsen" diesen radikalen Roman, der aus kindlicher Perspektive das Grauen der Nazizeit thematisiert. Das Besondere daran: Die Kinder sind ...
... in diesem Fall nicht die Opfer, sondern die Täter. Zwar wurde Elsner von der damaligen Literaturkritik dafür verrissen, aber dennoch ist es einer ihrer besten Romane!
Protagonistin in "Fliegeralarm" ist die fünfjährige Lisa Welsner, ihr vierjähriger Bruder Kicki, Gaby Glotterthal (Tochter des Obermedizinalrates), Wolfgang Wätz (Sohn des Lebensmittelhändlers), und noch fünf anderen Jungen. Sie vertreiben sich in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs in den Ruinen ihrer Stadt Nürnberg die Zeit, sammeln Bombensplitter, Gewehrkugeln und alles andere, was von den Soldaten als Andenken bei Fliegerangriffen hinterlassen wird. Die Nazipropaganda ist tief in die Kinderwelt eingedrungen, und was wären die Nazis ohne Pogrome? So bildet sich aus der anfänglich harmlosen Kindergang eine SS-Truppe mit dem noch nicht schulpflichtigen "Oberscharführer" Wolfgang und seiner Braut Lisa, die ihm "in aller Förmlichkeit [ihr] Jawort gegeben" hat. Lisa und ihre kleinen Freunde sind in ihrem Naziwahn gefangen und benötigen dringend ein Opfer, da sie die Erwachsenenwelt aufs Grausamste kopieren, sogar übertreffen wollen. Da kommt ihnen Rudi Tründel gerade recht, der als Sohn eines Kommunisten in den Augen der Kinder gleichzeitig auch ein Jude ist ...
Die Denkmuster der Kinder sind nicht nachvollziehbar, genau so wenig, wie es die Nazi-Ideologie war. Aber gerade dadurch, dass Elsner diese Form gewählt hat, erfährt der Roman eine unglaublich Aussagekraft. Die absurde Übertragung der nationalsozialistischen Gräuelwelt auf eine Kinderwelt lässt das Geschehen noch fürchterlicher erscheinen, das Lachen im Halse stecken bleiben und erzeugt ein extremes Gefühl des Unwohlseins, weil die kindlichen ProtagonistInnen ihr Handeln überhaupt nicht reflektieren, erst recht nicht hinterfragen. Für manch eine Leserin mag das zu harter Lesestoff sein, dennoch gehört dieser Roman zu den leider viel zu stark vergessenen Werken Elsners. Dank dem Berliner Verbrecher Verlag sind einige Bücher der Autorin wieder herausgegeben und sogar bislang nicht veröffentlichte Romane gedruckt wurden. Was bleibt, ist die Erkenntnis darüber, dass die Autorin viel zu früh aus dem Leben gegangen ist und die Literaturszene dadurch eine großartige Schriftstellerin verloren hat, die den LeserInnen mit Sicherheit noch viele bitterböse Werke beschert hätte.
Zur Autorin: Gisela Elsner stellte 1962 Auszüge von "Die Riesenzwerge" in der Gruppe 47 vor, erhielt 1964 dafür den "Prix Formentor" und war seitdem ständiges Enfant terrible auf der deutschen Literaturbühne. Trotzdem sie Erzählungen, Romane und Aufsätze veröffentlichte, sie dafür auch eine außergewöhnliche Resonanz in der Öffentlichkeit erhielt, so wurde jedoch immer kontrovers über sie berichtet. Gegen Ende ihres Schaffens und Lebens (1992 beging sie Suizid) war sie zu einer Verbannten der Literatur geworden. Gisela Elsner hätte am 2. Mai 2007 ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert.
Weiterlesen: "Heilig Blut" und "Das Berührungsverbot" und "Otto der Großaktionär" von Gisela Elsner
AVIVA-Tipp: Einer der besten und gleichzeitig bösesten Romane Elsners dürfte manch einer das Lachen im Hals stecken bleiben lassen. Der Rassenwahn übertragen auf eine kindliche Welt erfährt dadurch nachhaltigen Leseeindruck, der sich auf schmerzliche Weise ins Bewusstsein frisst. Mit ihrem offiziell letzten Roman "Fliegeralarm" von 1989 lässt Elsner ihre alten Stärken aufleben, sowohl was die Besetzung ihrer ProtagonistInnen, als auch was die kunstfertige Gestaltung ihrer Sätze betrifft. Ein bitter-böses Buch, das eine Schar neuer Elsner-Fans generieren dürfte.
Gisela Elsner
Fliegeralarm
Mit einem Nachwort von Kai Köhler
Verlag: Verbrecher Verlag, April 2009
ISBN: 978-3940426239
14,00 €
Broschiert, 282 Seiten