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Beitrag vom 18.12.2008
Der Kithara-Spieler - Chaim Noll
»Nana« Nicole Wenger
Der Autor erweckt in seinem neuen historischen Monumentalroman die fatalen Verwirrungen des römischen Reiches unter der Herrschaft Neros zum Leben. Bei diesem Roman handelt es sich nicht ...
... um eine verklärte Hymne auf einen verhinderten Künstler auf dem Kaiserthron oder um ein römisches Heldenepos, sondern es handelt sich vielmehr um ein sehr differenziertes und wirklich historisches Sittengemälde, das aus der Perspektive eines jüdischen Hofschreibers entworfen wird.
Man schreibt das Jahr 62 nach Christus. Doch zu dieser Zeit, der Herrschaft Neros, weiß man noch nichts von der Bedeutung, die Christus für die Geschichte und die Nachwelt haben sollte. Für RömerInnen, GriechInnen und JüdInnen verbirgt sich hinter "Christus" nur ein Führer einer jüdischen Sekte, die im römischen Reich immer mehr AnhängerInnen findet und daher von alles Seiten mit Argwohn und Skepsis betrachtet wird. Die RömerInnen halten an ihren GöttInnen und ihrem göttlichem Kaiser fest und dulden den jüdischen Glauben, solange er nicht missioniert ... Bei den AnhängerInnen Christi sieht das etwas anders aus. Die jüdischen Gemeinden, die keineswegs eine homogene Meinung in allen Glaubensfragen teilen, sehen sich und ihre Mitglieder dazu gezwungen, sich darüber zu verständigen, welche Haltung gegenüber dieser Sekte eingenommen werden sollte. Denn schließlich handelt es sich bei ihren Jüngern auch um Juden. Gleichzeitig gilt es aber das ohnehin angespannte und fragile Verhältnis zu den Römern nicht zu verschlechtern. Schließlich spitzt sich ohnehin schon die Lage vieler JüdInnen im römischen Prokurat, im entfernten Jerusalem, in Judäa zu.
Doch auch in Rom lauern an jeder Ecke Gefahren, nicht nur für die Seele, sondern gerade für Leib und Leben. Zu schnell erfolgt der Aufstieg wie auch der Abstieg in der Gunst des Kaiserhofes. Auf letzteren warten Tod oder Versklavung. Es ist ein bedrohlicher Weg, den der Protagonist, der namenslose Ich-Erzähler zu beschreiten hat. Dieser lernt sich schon früh in der intriganten und mordlüsternen Welt am römischen Hofe zurechtzufinden. Er wurde zwar als freier Bürger des Imperium Romanum, jedoch auch als Sohn einer freigelassenen jüdischen Sklavin geboren. Schon seine Mutter musste zahlreiche Machtwechsel, Verbannungen und Morde am Hofe miterleben. So sehr sie ihren Sohn ermutigt und zum Studium der Sprachen und Schriften anhält, so vehement ermahnt sie ihn, sich aus den Klüngeln und Machenschaften des Hofes herauszuhalten. Doch immer wird deutlich, wie stark nicht nur der Einfluss des jeweiligen Glaubens ist, sondern wie stark er das Leben der Einzelnen prägt. Es ist u.a. das Gebot des "Sich-kein-Bildnis-von-Gott-Machens", das den Argwohn der anders Gläubigen erweckt und vielleicht auch deren Neid. Die Einhaltung der mosaischen Gesetze müssen jedoch nicht nur als "mizwe", als Pflichterfüllung oder Last empfunden, vielfach können sie auch als Privileg gesehen werden.: "Wer sie begreifen wollte, musste lesen können, weshalb auch der ärmste Jude seine Kinder zur Schule schickte und zum Lernen anhielt, auf welche Weise wir Juden nach Ansicht vieler Römer einen Gutteil unserer Zeit vergeudeten. Lesen und Schreiben war das Handwerk verschiedener Berufe ... nicht einmal jeder Senator oder Ritter war sicher darin."
Es sind gerade diese Fähigkeiten, die den jungen Ich-Erzähler ungewollt an Einfluss auf den Kaiser gewinnen lassen. Wieder ist es die Verbindung zu seinem Glauben, die ihn diesen nicht ungefährlichen Weg beschreiten lässt. In Jerusalem entbrennt eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Hohepriestern des alten Tempels und der römischen Besatzungsmacht und drohen das Heiligtum zu entweihen. Der junge jüdische Schreiber kann sich dieser Affäre nicht entziehen und wird regerecht dazu gezwungen, sich auch politischer und religiöser Belange anzunehmen. Mit einer genialen Idee, für den publikum- und vor allem kunstliebenden Kaiser das Poem vom "Kithara-Spieler" zu dichten, schreibt er sich nicht nur in die Gunst des jungen Kaisers, sondern lernt bedeutsame und wichtige Gefährten für seinen weiteren Weg kennen.
Dieser Weg führt ihn zunächst in die Arme seiner zukünftigen Frau, einer mutigen Jüdin mit einem starken Willen und viel Glaubensstärke. Zunächst gilt es für diese Liebe einzustehen und sich auch am Hofe zu seinem Glauben zu bekennen. Unterstützt wird er bei seinen Unternehmung auch von höchster Stelle – der jungen Kaiserin. Doch wenig später wird auch das Leben des Erzählers und seiner Familie von den Ereignissen bedroht. Von den folgenden Schreckensjahren und der Zerstörung des Tempels berichtet der Erzähler, von Titus bedroht und verfolgt, aus seinem Exil.
Gerade historische Romane können, wenn sie wie der "Kithara-Spieler" einen unfassbaren Fundus an Detailwissen und ein unglaubliches sprachliches Vermögen beherbergen, von großer historischer wie auch zeitgenössischer und aktueller Bedeutung sein. Heutzutage ist es keineswegs so, dass trotz besseren Wissens, trotz historischer Aufklärung und höherer Bildung anders Glaubende, anders Lebende oder anders Aussehende nicht mehr verfolgt und diskriminiert werden. Chaim Nolls Meisterwerk macht die fast endlose Wiederholung brutaler Verfolgungen und nur halbherzig versprochener Toleranzbekenntnisse deutlich. So führt dieses Buch zum Nachdenken, mit welcher Überzeugung man bereit wäre, für den eigenen Glauben oder menschliche Werte einzutreten, oder ob man lieber den Weg des einfachen Kompromisses geht oder sogar unangenehm bedrohliche Konsequenzen auf sich nimmt.
"Der Kithara-Spieler" ist ein fesselndes, spannendes und lehrreiches Buch, das mit seiner Objektivität auf einen erhobenen Zeigefinger verzichtet. Chaim Noll erinnert an einen Großmeister des deutschsprachigen historischen Romans, an Lion Feuchtwanger. Der jüdisch-römische Schreiber Flavius Josephus (37-100) dürfte auch Chaim Noll für seinen Ich-Erzähler Pate gestanden haben.
Weiterlesen: "Josephus-Trilogie" von Lion Feuchtwanger.
Zum Autor: Chaim Noll wurde 1945 in Ostberlin geboren. Sein Vater ist der Schriftsteller Dieter Noll. Er verweigerte den Wehrdienst in der DDR. 1983 reiste er nach Westberlin aus, 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel. (Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Chaim Noll entwirrt und offenbart nicht nur die Zusammenhänge christlichen wie jüdischen Glaubens, sondern auch die gesellschaftlichen und menschlichen Ursachen, die zu ihrer Entzweiung und zeitweiligen Feindschaft geführt haben: Die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen. Lesen Sie, lernen Sie und lassen Sie sich in den Bann dieses spannenden Romans ziehen. Vielleicht legen auch Sie dieses Buch nach 816 Seiten mit Bedauern über das "frühzeitige" Ende zur Seite.
Chaim Noll
Der Kithara-Spieler
Verbrecher Verlag, Oktober 2008
Hardcover 816 Seiten
ISBN: 978-3940426116
34,00 Euro