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Beitrag vom 06.07.2011
Selim Özdogan - Heimstraße 52
Jana Muschick
Die Teenagerin aus "Die Tochter des Schmieds" ist erwachsen geworden. Die junge Frau versteht es, zu träumen, sich nach dem Vergangenen zu sehnen, eine Sehnsucht, die sie niemals verlassen wird.
"Die Tochter des Schmieds" (2005)
In Selim Özdogans erstem Roman um Gül, die Tocher des Schmieds Timur, lernt die Leserin ein kleines Mädchen kennen und begleitet es bis zum Teenageralter in Anatolien.
"Glanz meiner Augen", kurz "Gül", – nennt der liebevolle Vater sie in Erinnerung an seine früh verstorbene Frau, die aussah "wie ein Stück vom Mond". Um den Lebensunterhalt des Mädchens zu sichern, wird die junge Gül mit dem Friseur Fuat verheiratet. Der ist zwar eher großspurig, doch er kann den Vater schnell von seinen ernsten Absichten überzeugen. Da der Bildung für Mädchen in den 1950er Jahren in der Türkei keine große Rolle beigemessen wurde, brachte man sie schnell in die Ehe, um sie versorgt zu wissen.
Am Ende dieses ersten Romans zieht Fuat nach Deutschland. Gül wird ihm folgen und ein völlig neues Leben in der Fremde mit ihm verbringen. Dass sie dafür in einer großen Firma am Fließband stehen muss und dass sie sich wiederholt um ihren alkoholkranken Mann kümmern wird, weiß Gül hier noch nicht.
Weit, weit weg …
Der zweite Roman um Gül mit dem Titel"Heimstraße 52" beginnt mit ihrer Ankunft in Deutschland. Ohne Sprachkenntnisse, ohne ihre Töchter Ceren und Ceyda, zieht sie aus dem kleinen Dorf in Anatolien nach Bremen, um dort mit ihrem Mann Geld zu verdienen und den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch die Hoffnungen, die sie in ein Leben in Deutschland setzte, werden schnell von der Wirklichkeit eingeholt. Zwar verdienen Gül und Fuat sehr gut, so dass sie sich alles kaufen können, was sie sich wünschen, doch Güls Mann trinkt und verspielt zuviel Geld in den Cafés der Stadt. Erst in Deutschland lernt Gül, was Sehnsucht bedeutet – ein Gefühl, das sie nie mehr verlassen wird.
"Lang war die Reise, lang wie die Reisen in Märchen ..."
Ein Jahr später kommen ihre Töchter in die Bundesrepublik. Nach einem Sommer in der Heimat voller Auberginen, Baklavas und heißer Sonne werden sie in Deutschland "sozialisiert". Mit ihnen lernen auch die Eltern ein neues Land kennen, das sie ohne den Schulunterricht der Kinder so nie wahrgenommen hätten.
Doch Gül sehnt sich zurück nach Anatolien, nach ihrem Vater und dem elterlichen Obstgarten – auch wenn ihr Mann diese Sehnsucht nicht teilt. Fuat distanziert sich immer stärker von einer Rückkehr in die Türkei. Zwar baut er seiner Frau ein Haus in der Nähe der Schmiedschen Wohnung, Gül und ihre Töchter ziehen dort auch ein, doch er schiebt seine Rückkehr weiter auf und wird, was Gül noch nicht weiß, nie wieder in der Türkei wohnen. Die Eheleute begreifen bald, dass sie, bis auf den Versuch eines gemeinsamen Lebens, nichts gemeinsam haben. Was bleibt, als die Töchter das Haus verlassen haben, ist die Frage nach dem Danach, nach einer Zukunft für Gül, der die Regeln ihrer Gegenwart stets von Männern aufoktroyiert wurden.
Ein Leben zwischen den Welten
Die Einwanderin der ersten Generation, die so viel aus ihrem Land vermisste, sich einer völlig neuen Gesellschaft anpassen sollte und schließlich – mit fast 40 Jahren – weder in der Türkei noch in Deutschland zu Hause zu sein scheint, weiß, dass die Ankunft in der Türkei nicht ihr letztes Ziel ist. Das Leben von Selim Özdogans Figur ist eines von vielen Einwanderinnen, die ihren Männern folgten, gelockt von den Versprechen des Reichtums und des Glücks. Obwohl ihre Heimat für sie nie an Bedeutung verlor, wurde sie mit den Jahren zu einem Traum, der mit der Wirklichkeit nicht mehr viel gemein hatte.
Selim Özdogans Roman zeichnet einen Kreis der Ankunft und des Abschieds. Eine Erzählung, fast ein modernes Märchen, über ein fremdbestimmtes Leben mit einem Mann, den Gül erst verlassen kann, nachdem alle familiären Pflichten erfüllt sind.
AVIVA-Tipp: Selim Özdogan hat nach dem ersten Gül-Roman erneut ein Buch geschrieben, das berührt und nach dem Lesen der letzten Seite noch lange nachhallt. Frau kann gar nicht anders, als diese naive und zugleich weise Frau zu bewundern, die mit so viel Stärke durch das ihr vorgeschriebene Leben geht. Ein Blick aus tiefstem Herzen auf das Sein zwischen den Nationen und auf die Hoffnung, doch irgendwann irgendwo anzukommen.
Zum Autor: Selim Özdogan, 1971 in Adana/Türkei geboren, ist ein deutsch-türkischer Schriftsteller, der mit seinen scheinbaren Adoleszenzromanen nicht nur die die Emotionen von Jugendlichen zum Klingen bringt. Sein erster Roman "Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist" (1995) wird als Kultbuch gehandelt. Er schreibt vielfältig, denkt offen und ist – auch in Lesungen – ein echter Lese- und Ohrenschmaus.
Selim Özdogan
Heimstraße 52
Aufbau Verlag, erschienen: Februar 2011
Gebunden, 302 Seiten
ISBN-13: 978-3-351-ß3337-8
19,95 Euro
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