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Beitrag vom 14.01.2011
Herta Müller - Lebensangst und Worthunger
Sonja Baude
Kurz nach Bekanntgabe, dass sie den Nobelpreis für Literatur 2009 erhalten würde, war Herta Müller im Gespräch mit Michael Lentz. Dabei gewährte sie Einblick in ihr Denken und Schreiben.
Ihre Antworten auf die Fragen des Schriftstellerkollegen über Art und Form ihres Schreibens lassen sich begreifen als "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden"(Kleist), die genau dadurch ein Höchstmaß an Präzision gewinnen.
Lentz eröffnet das Gespräch mit der vermeintlich simplen Frage:"Warum Schreiben?" Herta Müller antwortet: "Ich glaube, es wird zu einer, ja es wird zu einer Art Wirklichkeit, zu einer Art, mit sich selbst zurechtzukommen." Und bereits hierin, im ersten Auftakt hin zu einer möglichen Antwort, die sich verzweigt und viele ästhetische und menschliche Aspekte vorführen wird, finden wir schon alles, was das Besondere dieses kleinen Buches auszeichnet. Herta Müller beginnt bei sich, mit einer Ahnung, die kein abschließendes Wissen beansprucht. "Es wird ein Schlüssel, der in die Tage hineinpaßt [...] Die Tage kommen ja nacheinander auf einen zu, und wenn man sich darin nicht mehr anders helfen kann, nimmt man seinen Schlüssel wieder." Darum also Schreiben, als Schutz vor der Welt, einer Welt, die für Herta Müller über viele Jahre durch die grauenhaften Repressionen des rumänischen Staates gekennzeichnet war. Ihr Schreiben und Leben waren und sind eng gebunden an die Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate, das wird in den Antworten deutlich.
Ihre Antworten sind aber gleichzeitig auch Selbstbefragungen: Was meint "Aufgabe der Literatur"? Kann es das überhaupt geben? "Ich glaube, das ist schwer zu sagen [...] Eine Aufgabe ist etwas, was schon auf eine Wirkung zielt [...] Ich weiß nicht, ob sich das einlöst, wenn das Schreiben sich das von Anfang an vornimmt. Ich bezweifle das." Immer ist sie zögerlich, wenn Lentz gelegentlich schon mögliche Antworten mitliefert in seinen Fragen, seine Interpretationen abfragt. Immer stellt sie den Zweifel dagegen, nicht als Abwehr, sondern im Gegenteil um eine größere Tiefenschärfe anzustreben, die die LeserInnen einlädt, an der sehr persönlichen Gedankenverfertigung teilzuhaben.
Insofern liest sich das Gespräch nicht als Frage-Antwort- Wechsel, sondern jede ihrer Antworten ist eine Analyse, die sehr genau die Wörter der Fragen einzeln neu befragt. Gleichzeitig haben einzelne situative Beschreibungen eine ungeheure Imaginationskraft, die stellenweise kaum aushaltbar ist: Tätig als Übersetzerin in einer Traktorenfabrik sollte sie aus dem Unternehmen geekelt werden, was darin mündete, dass sie zuerst ihr Büro verlor, dann die letzte Ecke eines Schreibtisches räumen musste und schließlich ihre Arbeit auf den Treppenfluren der Fabrik erledigte. So begann sie mit dem Schreiben, in einem Moment, da sie größter Aggression, Demütigung und Verleumdung ausgesetzt war. Sie leistete Widerstand: Schreiben auf den Treppen als Widerstand gegen die Staatssprache. Und hier entstand ihr erstes Werk: "Niederungen".
Mit ihren sehr persönlichen Antworten schafft sie einen Möglichkeitsraum, der vieles nebeneinander beinhaltet: die Einsamkeit und die Gemeinsamkeit, die Naivität und die Präzision, das Sprechen und das Schauen, das Geschütteltwerden der Sprache und die Ordnung der Wörter, die Lebensangst und den Worthunger. Und auch alle "Orte und Gegenstände stehen nicht nur herum, sie sind Teil der Handlung", sagt die Autorin. So entsteht bei Herta Müller ein ganz eigener Realitätsbegriff.
Auf die Frage, wie sie mit den Gesprächsnotizen aus der Vorarbeit mit Oskar Pastior für ihr Buch "Atemschaukel" umgegangen sei, erinnert sich Müller, wie Pastior immer und immer wieder das Schaufeln vorführte, so wie er es im Arbeitslager machen musste, damit sie jede einzelne Bewegung festhalten und Worte dafür finden konnte: "Schaufeln ist ein Habitus, jede Bewegung ruft die andere hervor. Das Schaufeln ist immer nur das ganze Schaufeln." Möglicherweise ist damit auch die unermüdliche Erinnerungsarbeit beschrieben, die das Werk von Herta Müller ausmacht. Ein Grabungsvorgang, der das ganze Schaufeln ist.
AVIVA-Tipp: Im Gespräch mit dem Schriftsteller Michael Lentz setzt Herta Müller ein Nachdenken über das Leben, das Schreiben und die Kraft der Wörter in Gang. Nie will sie dabei ein sicherndes Denken generieren, sondern sucht nach Widerständen, um die Komplexität der Fragen auszuloten. Ihre Antworten sind nicht das Ende, sondern der Anfang sehr präziser Überlegungen über seelische Zerrüttungen, über Schutzorte und die Magie der Wörter. Die LeserInnen können sie bei diesem Denkprozess begleiten, der große Klugheit, Sensibilität und Menschlichkeit erkennen lässt.
Zur Autorin: Herta Müller wurde 1953 in Rumänien im deutschsprachigen Nitzkydorf geboren. Nach dem Philologiestudium arbeitete sie einige Jahre als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, wurde aber aufgrund ihrer Weigerung, mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, entlassen. Seit 1987 lebt sie als Schriftstellerin in Berlin und ist seit 1995 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. Sie hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, unter anderem 2005 die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin. Herta Müller wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ist Literaturnobelpreisträgerin 2009.
Herta Müller
Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009
Suhrkamp, erschienen 18. Oktober 2010
55 Seiten
ISBN 978-3-518-12620-2
8 Euro
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