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Beitrag vom 16.09.2010
Eshkol Nevo - Wir haben noch das ganze Leben
Yasmine Georges
Vier Zettel, zwölf Wünsche und zwei Weltmeisterschaften. In seinem neuen Roman erzählt Eshkol Nevo von Plänen, die das Leben durchkreuzen und von den Freunden, die einen wieder aufbauen,...
... wenn alles schiefgeht.
"Es war Amichais Idee.", beginnt Juval Fried den Bericht über sein Leben und das seiner Freunde in den letzten vier Jahren.
Vier Jahre, das ist die Zeitspanne zwischen den Weltmeisterschaften von 1998 und 2002, in der das Leben der Clique, die seit der 12. Klasse unzertrennbar ist, auf den Kopf gestellt wird.
Churchill, der eigentlich Juav Alimi heißt, ist der Mittelpunkt der Truppe. Neben ihm kommt sich der Erzähler, Juval, manchmal ganz klein vor. Dann gibt es noch Ofir, der in Werbung ganz und gar nicht glücklich ist und schließlich Amichai, der mit seinen 28 Jahren schon eine Familie gegründet hat.
Vier Männer Ende zwanzig und vier Jahre. Aus diesem scheinbar harmonischen Duo mixt Eshkol Nevo in seinem zweiten Roman einen explosiven Cocktail.
Als die vier 1998 ihre drei Wünsche aufschreiben, ahnen sie noch nichts von den Ereignissen, die die nächsten Jahre zu Wendepunkten in ihrem Leben machen werden.
Juval, der seine Jaara verliert, verliert auch sein eigenes Leben und lebt am Ende nur noch durch seine Freunde, wie er sich später selbst eingesteht. Während Churchill mit Jaara und seinem ersten großen Fall in der Staatsanwaltschaft schon all seine Träume verwirklicht zu haben scheint. Doch manchmal hat das Leben so eine Art, sich von hinten anzuschleichen und eine/n umzuwerfen.
Auch Churchill muss fallen, ebenso wie Ofir, der einem Burn-out erliegt. Die Kreativen seien immer am Abgrund, sagt er, immer müssten sie Angst haben auszubrennen und keine neuen Ideen mehr liefern zu können. Schließlich stürzt auch Ofir in den Abgrund und flieht nach Indien, wo er seinen Anker findet, der ihn vor dem Ertrinken bewahrt: Maria. Und Amichai? In seinem vergeblichen Versuch seine Frau Ilana aufzuheitern, die immer am Rande der Depression steht, fällt er selbst in ein schwarzes Loch.
Mit viel Feingefühl für seine Charaktere erzählt Eshkol Nevo von kleinen Katastrophen und großen Tragödien. Liebe, das ist das rote Band, welches sich durch seinen Roman zieht. Die Liebe, welche Freunde dazu bringt sich gegenseitig aufzufangen und auch zu verzeihen. Juval muss Churchill verzeihen, dass er ihm die Freundin ausgespannt hat und sich selbst, dass er noch keinen Sinn für sein Leben gefunden hat.
Denn auch darum geht es in "Wir haben noch das ganze Leben". Um die Suche nach dem Sinn, den es macht, morgens aufzustehen. Und was, wenn man ihn verliert? Was kommt, nachdem alle Stricke reißen? Solche und andere Fragen stellen sich Juval und seine Freunde im Laufe der vier Jahre.
Sie alle haben mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen. Juval mit der Einsamkeit, Ofir mit seinem Drang, weiterzugehen und Amichai mit der Last, Lebensfreude zu entfachen. Churchill stellt seinen Ehrgeiz über seine Freunde und verliert am Ende alles, auch Jaara.
Wofür das alles? "Für die Symmetrie", antwortet Juval. Es ist eine unglaubliche und deshalb umso einleuchtendere Lösung, die der Autor für seine Protagonisten findet. Ofir erfüllt Amichais Wunsch nach einer Heilpraxis, während Churchill mit Jaara eine Familie gründet - Juvals Traum. Und Amichai tut etwas für die Gesellschaft und erfüllt Churchills Wunsch. Schließlich macht Juval sich daran ein Buch zu schreiben, um auch Ofirs Wunsch zu verwirklichen.
Trotz aller Tragik die den Protagonisten widerfährt, gelingt es Nevo, seinem Roman eine Leichtigkeit einzuhauchen, die eine/n über die vielen detaillierten Schilderungen hinweg trägt. An manchen Stellen schießen der Leserin die Tränen in die Augen – vor Lachen. Beschwingt erzählt der Autor von Freundschaft und Frauen und dem Leben in Israel. Fast wie in einer Parallelwelt, so leben die vier, ohne so richtig mit den Geschehnissen um sie herum konfrontiert zu werden. Und doch ab und zu sickert etwas von der Wirklichkeit wie Gift in das Paralleluniversum und verdunkelt alles für einen Augenblick.
AVIVA-Tipp: Auf 440 Seiten erzählt Eshkol Nevo von Freundschaft und Bewährungsproben, vom Fallen und Neuanfangen. Das tut er mit solcher Liebe zum Detail, voller Wärme und Respekt vor den Figuren, dass diese von den bedruckten Seiten zu springen scheinen. Man möchte lachen, weinen und Fußball gucken und am liebsten noch mal ganz von vorn anfangen mit den vieren, die einem mit jeder Seite mehr ans Herz wachsen.
Zum Autor: Eshkol Nevo wurde 1971 in Jerusalem geboren. Er arbeitete zunächst als Werbetexter und legte 2004 bereits seinen ersten Roman "Vier Häuser und eine Sehnsucht" vor, welcher monatelang auf der Bestsellerliste stand und mit Golden Book Prize 2005 ausgezeichnet wurde. Eshkol Nevo unterrichtet kreatives Schreiben und Denken an der Bezalel Academy of Art and Design, der Tel Aviv University, dem Sapir College und der Open University of Israel. Sein Roman "Homesick" wurde mit dem "Book Publishers Association Gold Prize" (2005) sowie dem "FFI-Raymond Wallier Prize" im Rahmen der Buchausstellung in Paris (2008) ausgezeichnet. In 2008 erhielt er die Mitgliedschaft der Israel Cultural Excellence Foundation (IcExcellence), eine der größten Anerkennungen des Landes.
(Quelle: Deutscher Taschenbuch Verlag)
Weitere Infos zu Eshkol Nevo finden Sie unter: www.dtv.de
Eshkol Nevo
Wir haben noch das ganze Leben
Verlag: dtv premium, erschienen am 01.05.2010
Originalausgabe: Zmora Bitan,2007
Taschenbuch, 440 Seiten
Euro 14,90
ISBN 978-3-423-24790-0