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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.07.2008


Gedächtnisraum Europa - Natan Sznaider
Yvonne de Andrés

Professor Natan Sznaider diskutiert Visionen des europäischen Kosmopolitismus und kritisiert den Diskurs europäischer Intellektueller, da diese die Zukunft Europas meist ohne Juden denken.




Wer heute über die Zukunft Europas schreibt, tut dies meist im kritischen Rückblick auf dessen nationalistischen Traditionen. Ein Europa der universellen Werte und der gleichen Rechte für alle Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Religion wird anvisiert. Das zukünftige Europa wird gewissermaßen im Geiste seiner eigenen Tradition, der Aufklärung, neu erfunden.

Der Professor für Soziologie am Academic College in Tel-Aviv, Natan Sznaider, stellt in seinem ausgezeichneten neuen Essay die These auf, dass dies noch nicht genug ist. Die Erfahrungen von Juden in Europa zeigen, dass Antisemitismus, Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung, trotz Aufklärung, trotz der Idee der gleichen Rechte, weiter existierten und existieren.

Ein wesentliches Essential der Aufklärung, nicht nur in Deutschland, war, dass Juden nur dann in den Genuss der gleichen Rechte kommen sollten, wenn sie ihre Identität als Juden aufgaben. Ein Europa der Zukunft, dass diese Erfahrung nicht ernst nimmt, grenzt nicht nur Juden in der Erinnerung und in der Zukunft aus, es wird auch den Gefahren einer unvollkommenen Moderne, denen es in seiner Geschichte mehrfach zum Opfer gefallen ist, nicht entgehen können.

Natan Sznaider diskutiert in seinem Buch Stellungnahmen, Kontroversen, Literatur, Kunst und vieles mehr, die um das Thema Europa nach dem Nationalsozialismus kreisen. Er spannt den Bogen von 1933 bis in die Gegenwart. Er nimmt die LeserInnen nicht nur mit auf eine Reise durch die Gedankenwelt und die Überlegungen kritischer Geister wie unter anderem Hannah Arendt, Walter Benjamin, Franz Kafka, Raphael Lemkin, "Gedächtnisraum Europa" ist auch eine Reise an Orte und wichtige Ereignisse: Königsberg, Nürnberg, Moskau, Jerusalem, Zürich, Genf, Warschau und Paris.

Die Geburt des neuen kosmopolitischen Europa entdeckt Sznaider besonders in der Rechtsprechung des Nürnberger Prozesses. Dort urteilten die Alliierten über "Verbrechen gegen den Frieden", "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" – wie Hannah Arendt und Karl Jaspers später korrigierten: "Menschheit". In der Erinnerung an diese Verbrechen kann Europa seine Zukunft neu formulieren. Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen ist die Negativfolie der europäischen Zukunft.

Allerdings, und eben das ist die große Leistung des Essays von Sznaider, wird die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten verkürzt, werden sie einfach nur als Verbrechen gegen wesentliche Errungenschaften der Menschheit gedeutet. Schließlich ging es vor allem und ganz besonders um die Auslöschung der Juden. Wer in der Erinnerung - so Sznaider - die Verbrechen aus diesem Kontext löst, wird auch für die Zukunft eines kosmopolitischen Europa, entscheidende Fallen übersehen. Nicht nur wird er die berechtigten Forderungen nach Anerkennung und Respektierung einer jüdischen Identität, als rückwärtsgewandt und antimodern qualifizieren, er wird das Beharren auf Partikularität überhaupt, auf einer spezifischen Tradition, Religion und Kultur als per se fortschrittsfeindlich ansehen.

Ein neuer europäischer Kosmopolitismus wird also einnerungspolitisch, die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht nur als Verbrechen gegen die Menschheit universalisieren dürfen, er wird ihren spezifischen Charakter, den Versuch der deutschen Nationalsozialisten, die Juden dieser Welt vollständig zu vernichten, mit im Auge behalten müssen. Darüber hinaus kann die Zukunft Europas ohne die spezifische jüdische Erfahrung in Deutschland und Europa nicht neu formuliert werden. "Erst wenn wir erkennen, dass neben der Idee der Gleichheit aller Menschen auch die der Freiheit eines jeden Menschen, sei er Jude, Christ, Muslim oder Atheist wesentlich ist, kommen wir einer kosmopolitischen Zukunft Europas näher.

Die wesentliche Frage, die sich ein neuer europäischer Kosmopolitismus stellen muss, lautet nach Natan Sznaider: "Wie löst man die Spannung zwischen partikularer Identität und allgemeinen Werten? Wie jüdisch waren Kafka, (...) Benjamin und Arendt?" Der Autor hat auch bereits eine Antwort parat, sie lautet: "Wer sich der Antwort auf diese Fragen verweigert, hat den jüdischen Kosmopolitismus verstanden".

Zum Autor: Natan Sznaider wurde 1954 in der Nähe von Mannheim geboren und lebt seit 1974 in Israel. Er ist Professor für Soziologie am Academic College in Tel-Aviv. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen und kulturellen Dimension der Globalisierung sowie der Bedeutung der jüdischen Erfahrungen und Erinnerungen in diesen Prozessen. Er schrieb zusammen mit Daniel Levy über "Die Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust" und zusammen mit Angelika Poferl über "Ulrich Becks kosmopolitischer Begriff".
Lesen Sie auch das Interview mit Natan Sznaider auf den Seiten des Dilemma Verlags.

AVIVA-Tipp: Das Essay von Professor Natan Sznaider gibt einen guten Einstieg in den Diskurs über jüdische Erfahrungen und Perspektiven im gegenwärtigen Europa. Natan Sznaider ist einer der wesentlichen Autoren, die man kennen muss, wenn man über die Perspektiven Europas heute mitdiskutieren will.

Natan Sznaider
Gedächtnisraum Europa

Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus
transcript Verlag, erschienen April 2008
kartoniert - 144 Seiten
ISBN: 978-3-89942-692-2
16,80 Euro


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Beitrag vom 23.07.2008

Yvonne de Andrés