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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 29.06.2010


Marie NDiaye - Drei starke Frauen
Marie Heidingsfelder

Die Gewinnerin des Prix Goncourt 2009 beschreibt drei Frauen im Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika, zwischen Schicksal und Freiheit, zwischen offensichtlicher Schwäche und heimlicher Stärke




Drei starke Frauen

So unterschiedlich ihr Schicksal scheint, das in einer jeweils abgeschlossenen Geschichte gezeigt wird, so gleich sind sich Marie NDiayes Protagonistinnen in einer Eigenschaft: An einem bestimmten Punkt lösen sie sich aus der Benommenheit, den milchigen Träumereien" und treffen Entscheidungen.

Als ihr Vater sie zu sich ruft, verlässt die Anwältin Norah ihr Mutterland Frankreich, ihre Tochter und ihren Partner und reist nach Afrika, um ihrem Bruder aus dem Gefängnis zu helfen. Nach Jahren ohne Kontakt trifft sie auf den Mann, der ihre Mutter verlassen und ihren Bruder aus dem Leben in Paris zu seiner Familie im Dara Salam entführt hat.
Fanta hingegen hat den Senegal mit ihrem französischen Ehemann und ihrem Sohn verlassen. Doch allen Träumen zum Trotz ist die junge Lehrerin weder reich noch frei, sondern ohne Arbeit hinter den Jägerzäunen des Kleinbürgertums und der Unzufriedenheit ihres Mannes eingesperrt.
Khady Demba ist mit Anfang 20 bereits verwitwet, als die Familie ihres verstorbenen Mannes die kinder- und somit nutzlose Frau auf den gefährlichen Weg nach Europa schickt. Sie weiß nicht, was das ist und wo das liegt und macht sich trotzdem auf die Suche nach dieser Utopie, diesem Nicht-Ort, der die Träume aller Mitreisenden erfüllt.

Im Laufe des Romans streifen sich die Geschichten dieser drei: Die sehr junge Khady arbeitet im Haus von Norahs Vater und soll als Witwe ihrer Kusine Fanta nach Frankreich folgen - Doch keine der Frauen bemerkt dieses Streifen. Es fungiert vielmehr als subtiler Hinweis auf das allgegenwärtige Spannungsfeld zwischen Senegal und Frankreich, Entwurzelung und Heimat, Weggehen und Heimkehr.

NDiayes Protagonistinnen sind nirgendwo "zu Hause", die unaufhörliche Präsenz beider Kontinente, unverständliche Symbole, nie geklärte Familiengeheimnisse und Demütigungen bestimmen ihr Leben: In eine Art inneres Exil geflüchtet, in einer geistigen Kapitulation, oszillieren sie wie Spielbälle zwischen den Kulturen und den Ansprüchen ihrer Nächsten - bis sie an einem bestimmten Punkt das ihnen angetragene Schicksal selbst wählen. Selbst, wenn sich äußerlich kaum etwas ändert, kippt ihre Welt und wird damit wirklich zu "ihrer". Es ist das plötzliche Bewusstsein der eigenen Existenz als Subjekt und das Lösen aus der Opferposition, das Norah, Fanta und Khady vereint und sie zu dem macht, was der Titel verspricht: Drei starke Frauen.

Sprache mit Sogwirkung

So beeindruckend NDiayes Protagonistinnen und ihre Stärke ist, was an dem Roman Seite für Seite mitreißt, ist die Sprache der französischen Autorin. Die Geschichten entwickeln eine Plastizität und beinahe körperliche Intensität, die den Atem raubt. Wie aus den Romanen von Gabriel Garcia Marquez kommt den LeserInnen eine fiebrige, klebrige Hitze entgegen, die - zusammen mit ausgiebig geschilderten Krankheiten und Blessuren - beständig an die eigene Körperlichkeit erinnert.
"Auf dem Rückweg vibrierten sie von der dem Markt eigentümlichen Erregung, als wäre die ganze Fieberhaftigkeit und das heftige Lärmen der Menge in ihren Körper eingedrungen und die müssten sich davon erleichtern, ehe sie nach Hause kamen, und sie hörten nicht auf, Khady zu schikanieren, sie zu schubsen oder zu zwicken, gereizt und erregt von der Festigkeit ihres unempfindlichen Fleischs, der verstockten Kälte ihres Ausdrucks, denn sie wussten oder ahnten, dass sie jedes Begriffsvermögen abschaltete, wann man sie quälte, sie wussten oder ahnten, dass die schärfsten Spitzen sich in ihrem Geist in rötliche Schleier verwandelten, die sich teilweise, aber nur flüchtig mit den anderen vermengten, mit ihren bleichen, wohltuenden Träumereien - sie wussten, sie ahnten es und ärgerten sich dumpf darüber." (S.275, Khady).

In solchen Passagen zeigt sich, in welcher Perfektion Marie NDiaye ihre Sprache beherrscht: Spielend wechselt sie von kurzen, abgehackten Hauptsätzen zu durchdachten Reflexionen bis hin zu den atemlosen Wortschlangen des Zitates. Immer wieder nimmt sie schon Geschriebenes wieder auf und erzeugt so eine tiefe Eindringlichkeit und einen unwiderstehlichen Sog: Man möchte die Augen vor dem unbarmherzigen Leuchten verschließen, der Enge entkommen und das Karussell der immer gleichen Gedanken stoppen und man versteht, warum sich Khady, "des Lebens müde und der wirkungslosen Kränkungen überdrüssig", in ein unbestimmtes geistiges Rauschen flieht, in dem "blasse Luftgespinster ihre Gedanken ersetzen."

AVIVA-Tipp: "Drei Starke Frauen" ist ein großartiger Roman, sowohl stilistisch mitreißend, als auch inhaltlich berührend. Fern von der bekannten Opferdarstellung und der aktuellen Afrika-Vermarktung durch die Weltmeisterschaftseuphorie, setzt sich Marie NDiaye mit dem komplexen Knoten von Themen auseinander, die ihre drei Frauen - stellvertretend für andere im Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika - tatsächlich bewegen: Heimat, Entfremdung, Familie, Entwurzelung - und die mögliche Selbstbestimmung.

Zur Autorin: Marie NDiaye wurde 1967 in Pithiviers, südlich von Paris, als Tochter einer französischen Mutter und einem senegalesischen Vater geboren. Ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, stand für die exzellente Schülerin früh fest, bereits mit 18 schickte sie ihr erstes Manuskript an den renommierten Verlag Éditions de Minuit - und wurde angenommen. Es folgten weitere preisgekrönte Romane und Dramen, in denen sie Öffentlichkeit und KritikerInnen mit ihrem kraftvollen Stil beeindruckte. Mit dem "Prix Goncourt" für "Drei starke Frauen" ist ihr 2010 der endgültige Durchbruch gelungen: Zum erstem mal ging der wichtigste französische Literaturpreis an eine afro-französische Frau. In 2010 erhält sie den "Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis". Marie NDiaye sei mit ihrer "poetisch-dramatischen Sprache" von den deutschsprachigen Bühnen noch zu entdecken, sagte die Stifterin Ute Nyssen. Die Auszeichnung ist mit 15 000 Euro dotiert.
Seit der Wahl von Nicolas Sarkozy zum Staatspräsidenten lebt Marie NDiaye mit ihrer Familie in Berlin.


Marie Ndiaye
Drei starke Frauen

Originaltitel: Trois femmes puissantes, 2009, Gallimard
Aus dem Französischen übersetzt durch Claudia Kalscheuer
Suhrkamp Verlag, erschienen Juni 2010
Gebunden, 342 Seiten
ISBN-13: 978-3518421659


Weitere Infos finden Sie unter:

www.suhrkamp.de


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AVIVA-Redaktion