Judith Butler - Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Buecher



AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 15.06.2010


Judith Butler - Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen
Undine Zimmer

In fünf Essays, die zwischen 2004 und 2008 in Fachzeitschriften als einzelne Aufsätze erschienen sind, beschäftigt sich und kommentiert Butler den Krieg und seine sichtbaren Bedingungen.




...Butlers Politik der Anerkennung führt die Gedanken ihrer letzen Texte und Vorträge fort. Sie setzt den Fokus auf eine normative Verpflichtung zur Gleichstellung und Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse, wie Nahrung, Zuflucht, Mitspracherecht, Beschäftigung und die Gleichverteilung von Gewaltrisiken.

Eine Frage zum Einstieg

Wenn man das Buch aufschlägt, stellt man sich als erstes die Frage, warum der Verlag im Titel des Buches aus einer Frage eine Aussage macht. Der Originaltitel "When is life Grievable?" wird im Deutschen zu "Warum wir nicht jedes Leid beklagen". Gerade das Fragezeichen verweist jedoch auf die Unbestimmbarkeit der Grenze zwischen dem beklagenswerten und dem nicht-beklagenswerten Leben in Judith Butlers Kritik des Krieges.

Um es noch mal im Sinne von Butler epistemologisch betrachtet auf den Punkt zu bringen: Es geht um die Grenzen von Leben und Tod. Was nicht als Leben definiert (wahrgenommen) wird, kann auch nicht sterben (in der Wahrnehmung)! Auch wenn die Wahrnehmung allein noch keine direkte Auswirkung auf die Realität hat, ist Butler dennoch davon überzeugt, dass zwischen Wahrnehmung und materieller Realität eine Wechselwirkung besteht, die in der Politik sichtbar wird. Das klingt erst mal sehr wissenschaftlich und abstrakt, wird aber von Butler mit Verweisen auf konkrete Diskussionen anschaulich gemacht, die vor allem die politische Brisanz ihrer philosophischen Theorien verdeutlichen.

Eine Alternative

Butler möchte in "Raster des Krieges" auf eine alternative politische Herangehensweise verweisen, mit der sie neben den USA gleichzeitig die Einwanderungspolitik des EU-Amerika-Raums herausfordert, ebenso wie Äußerungen des Papstes, Verfahrensweisen des Multikulturalismus und progressive feministische Konzepte. Wie das alles zusammenhängt? Für Butler müssen diese Diskurse endlich in die Verhandlungen im Bereich der "Foreign Affairs" Eingang finden. Der heftig umstrittenen Frage, wo lebenswertes Leben beginnt, setzt sie eine ganz andere Perspektive entgegen: Die Frage nach den sozialen Bedingungen für das Bestehen und Gedeihen eines Subjekts, das heißt, nach denen ein lebenswertes und beklagbares Leben möglich ist oder nicht: "Der institutionalisierte und aktive Rassismus auf der Ebene der Wahrnehmung bringt ikonische Darstellungen von Bevölkerungsgruppen hervor, die in höchstem Maße betrauerbar sind, und er erzeugt Bilder von Gruppen, deren Verschwinden kein Verlust ist und die unbetrauerbar bleiben." (Seite 30)

Wann ist Leben lebbar und beklagbar?

Die Voraussetzungen, die ein Leben lebbar machen, so Butler, müssen von außen gefördert werden. Der eigene vorhandene Lebenswille eines Subjekts spielt dafür keine Rolle. Das wird deutlich am Beispiel der Folter, wo der eigene Lebenswille eines Subjekts keinen Einfluss auf sowohl den Erhalt des Lebens oder sein Ende nehmen kann.
Butler referiert, wie schon in früheren Texten, auf Hegel und entwickelt dessen Prinzip der "Anerkennung" weiter. Die Frage könnte dann so lauten: Wann nehmen wir jemanden als gleichgestelltes Subjekt wahr und welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen sind (nicht) gegeben, die ein bestimmtes Leben lebbar machen?

Eben das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein dieser Bedingungen setzt für Butler den Maßstab der neuen Gleichberechtigung. Es geht also um die Kategorien, die die Anerkennbarkeit bestimmen und diesen folgt, laut Butler, auch eine Verantwortung: "Wo ein Leben keine Chance hat zu gedeihen, hat man für die Verbesserung seiner einschränkenden Bedingungen zu Sorge zu tragen."

Die Politik des Krieges

Ganz banal ausgedrückt findet ein Krieg meistens zwischen zwei Fronten statt: Den "Guten" und den "Bösen". Durch diese Aufteilung wird, laut Butler, der wesentliche Punkt jedoch schon berührt. Die Gewalthandlungen des einen Parts werden als gerechtfertigt und notwendig anerkannt im "Kampf gegen den Terror und für den Frieden":

"Die Kritik des Krieges entzündet sich an den tatsächlichen Kriegsereignissen, aber das Ziel dieser Kritik besteht darin, die Komplexität und Fragilität des gesellschaftlichen Bandes neu zu überdenken und die Bedingungen in den Blick zu bekommen, unter denen Gewaltanwendung unwahrscheinlicher wird und unter denen verschiedene Leben gleichermaßen betrauerbar und damit lebbarer werden."

Diese Rahmen der Gewaltanwendungen im Krieg wirken jedoch auch in den Alltag hinein und definieren, welche Leben als betrauerbar gelten. Das heißt zum Beispiel auch, dass unsere sexuellen, politischen und kulturellen Freiheiten missbraucht werden zum Zweck der kulturellen Festlegung und als Kriterium für Ausgrenzung.

Gewaltlosigkeit ist kein friedlicher Zustand

Die Rahmen des Krieges und der Gewaltanwendung werden immer wieder reproduziert und ihre Wirkung hingenommen. Diese Rahmen zu unterbrechen, so Butler, wird erst möglich mit der Fähigkeit zu Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit fungiert hier als ein Appell: "Die entsprechende Frage lautet dann: Unter welchen Bedingungen sind wir für diesen Anspruch offen, was ermöglicht uns, ihn zu akzeptieren oder vielmehr, was ist die Voraussetzung dafür, dass dieser Anspruch überhaupt zu uns durchdringt?" (153)
Butler argumentiert hier nicht für eine utopische gewaltlose Widerstandsbewegung à la Ghandi, sondern bewegt sich konsequent in ihrer Unterwanderung der unseren Alltag rahmenden Kategorien der Wahrnehmung. So ist eben auch Nicht-Handeln politisches Handeln: "In diesem Sinne ist Gewaltlosigkeit kein friedlicher Zustand, sondern ein sozialer und politischer Kampf, um den Zorn auszudrücken und (...) um auf wirksame Weise sagen zu können <>"

Zur Autorin: Judith Butler geboren 1956, ist in einer jüdischen Immigrantenfamilie in den USA aufgewachsen. Sie ist einer der bedeutendsten Philosophinnen der heutigen Zeit. Bekannt geworden ist sie durch "Das Unbehagen der Geschlechter". Sie gilt als Begründerin der Queer-Theory. Ihre Theorien kreisen vor allem um Macht, Geschlecht und Identitäten. Judith Butler lehrt Rhetorik, Komparatistik und Gender Studies an der "University of California" in Berkeley. Am 19. Juni 2010 wird sie auf dem 32. CSD in Berlin mit dem Zivilcouragepreis ausgezeichnet.

Mehr Informationen zu Judith Butler finden Sie unter: www.theory.org.


AVIVA-Tipp: Wer Butler während ihrem letzen Vortrag in Berlin gehört hat, wird ihre Gedanken zu den Gedichten aus Guantánamo wiedererkennen. Dazu folgt ein Aufsatz über die Kriegsfotografien, der eine Auseinandersetzung mit einem von Susan Sontag verfassten Artikel ist. Judith Butler wird gerne als Ikone für verschiedene feministische Bewegungen und queere Politik benutzt. Wer ihre Texte selber liest wird erkennen, dass ihr Engagement über jegliche Szenengrenzen hinausreicht und auch Widersprüchliches vereint. In "Raster des Krieges" scheut sie sich nicht, auch diejenigen zu kritisieren, die für die gleichen Freiheiten kämpfen wie Butler selbst.

Judith Butler
Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen

Originaltitel: Frames of War. When is Life Grievable?
Übersetzung: Reiner Ansén
Campus Verlag, erschienen April 2010
Broschiert, 180 Seiten
ISBN 978-3-593-39155-7
19,90 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

"Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen und Krieg und Affekt" von Judith Butler

"CyberGender – Geschlecht und Körper im Internet" von Valeska Lübke

"Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien" von Christina von Braun, Inge Stephan

"Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus" von Ina Kerner


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Beitrag vom 15.06.2010

Undine Zimmer