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Beitrag vom 10.06.2010
Azar Nafisi - Die schönen Lügen meiner Mutter. Erinnerungen an meine iranische Familie
Christina Boge
Wie ein modernes Märchen mutet die Erzählung Azar Nafisis an. Jedoch sind es ihre wahren Erinnerungen an eine aufwühlende Familiengeschichte vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche im...
...Iran, die die Autorin hier verarbeitet.
Dieser Seelenstriptease dürfte der in Teheran geborenen Schriftstellerin nicht leicht gefallen sein. Ohnehin ist es in islamischen Ländern nicht üblich, ungeniert biographische Intimitäten preiszugeben. Die Geschichte, die sie erzählt, oder vielmehr die einzelnen Episoden, die sich schließlich zu ihrer eigenen Lebensgeschichte zusammensetzen, sind streckenweise sehr bedrückend.
Bereits zu Beginn wird deutlich, dass Azar Nafisi aus einer zerrissenen Familie stammt – und die Schuld dafür bei ihrer Mutter sucht. Diese ebenso schöne wie unnahbare Frau scheint in einer Parallelwelt zu leben, biegt sich die Wirklichkeit so zurecht wie sie ihr konveniert, dabei verstört und schikaniert sie mit Lügenkonstrukten über ihr Leben die ganze Familie. Obwohl die Autorin von klein auf nach mütterlicher Zuneigung und Anerkennung strebt, erfährt sie nur Missachtung. Mit klarsichtiger Traurigkeit beschreibt Nafisi das schwierige Verhältnis zur Mutter, das sie bis zu deren Tod nicht überwinden kann.
Diese schwierige Kindheit und Jugendzeit ist zugleich jedoch auch geprägt vom liebevollen Vater, den sie stets als Verbündeten gegen die tyrannische Mutter auf ihrer Seite weiß. Mit gemeinsamen Ritualen wie einer Geheimsprache versuchen die beiden der Realität im Haus zu entfliehen.
Von dem Vater lernt Nafisi die bedeutendsten Lektionen für´s Leben: Der intelligente und belesene Mann vermittelt seinem Kind durch Vergleiche und Geschichten aus der alten iranischen Literatur Lebensregeln und -Weisheiten. Von ihm erbt sie so auch ihr Interesse für Literatur – und für Politik, denn jeden Freitag finden in der Familienwohnung politische Diskussionen und Debatten mit der intellektuellen Oberschicht Teherans statt.
Nafisi flicht in ihre Erzählung so auch einen Teil der erschütternden iranischen Geschichte ein, den sie selbst erlebt hat. Wenn die Autorin die Aufstände gegen das Schah-Regime nachempfindet und von den Gräueltaten Ajatollah Khomeinis vor dem Hintergrund der Islamischen Revolution berichtet, können die LeserInnen das Ansteigen der gespannten Atmosphäre im Haus der Familie sowie im ganzen Land förmlich spüren.
Spätestens als ihr Vater, der mittlerweile zu einer wichtigen politischen Persönlichkeit in der Hauptstadt aufgestiegen ist, im Zuge der Islamischen Revolution verhaftet wird und ihre Mutter als Parlamentsabgeordnete kandidiert, wird die gefährliche politische Situation im Land Realität für die junge Nafisi. Sie beginnt, sich in StudentInnenorganisationen zu engagieren und wird politisch aktiv.
Neben der Politik ist es vor allem die Literatur, der die junge Frau ihr Herzblut widmet. Zunächst ermöglichen Bücher ihr die Flucht in eine heile Welt. Später hofft sie auf ein erfülltes Leben durch Heirat. Sie nimmt überstürzt den Antrag eines Mannes an, den sie nicht liebt. Nafisis Schilderung über die darauf folgenden verzweifelten Nächte mit dem Mann berühren die LeserInnen besonders – bereits als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs, weiß die frisch Vermählte nicht mit körperlicher Nähe umzugehen und leidet weiter.
Auf Rat ihres Vaters befreit sich Nafisi aus der freudlosen Bindung und gründet eine eigene Familie mit ihrer großen Liebe. Hat sie nun also endlich ihr Lebensglück gefunden? Nicht ganz. Denn obwohl Nafisis Herz an ihrer Heimat hängt, kann sie es schließlich nicht mehr mit ihrer Auffassung von Freiheit und Gerechtigkeit vereinbaren, weiter in dem Land zu leben. Um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, entschließt sie sich, mit ihrer Familie den Iran und damit ihre Eltern zu verlassen. Es dauert noch viele Jahre, bis Nafisi fern der Heimat erkennt, dass sowohl die Mutter als auch der Vater ihr durch ihre unterschiedlichen Geschichten eine "transportable Heimat" geschenkt haben, die die Erinnerung hütet und ihr für immer ein Ort der Zuflucht ist.
AVIVA-Tipp: Nach "Lolita lesen in Teheran" (2005) brilliert Azar Nafisi mit einem neuen Werk, das ebenfalls das Zeug zum Bestseller hat. Leidenschaftlich und mitreißend gewährt die Autorin spannende Einblicke in ihr Privatleben. Besonders persönlich wird ihr Bericht auch durch Aufnahmen von Familien und Bekannten, die Nafisi selektiv auf einigen Seiten exponiert hat. Wer in eine dramatische Familiengeschichte eintauchen will und sich gleichzeitig für die politische Entwicklung des Iran zwischen den 1950er und 1980er Jahren interessiert, sollte dieses Buch unbedingt lesen.
Zur Autorin: Azar Nafisi ist Professorin und Direktorin des Dialogue Project am Institut für Außenpolitik an der John Hopkins University. Zuvor unterrichtete sie im Iran an verschiedenen Universitäten Literatur. Weil sie sich weigerte, den Schleier zu tragen, erhielt Nafisi 1981 Lehrverbot an der Universität von Teheran. 1997 verließ sie den Iran und wanderte in die USA aus. Azar Nafisi lebt heute mit ihrer Familie in Washington D.C. Weitere Informationen und Kontakt: www.azarnafisi.com (Verlagsinformation)
Azar Nafisi
Die schönen Lügen meiner Mutter. Erinnerungen an meine iranische Familie
Deutsche Verlags-Anstalt, erschienen Mai 2010
Gebunden, 392 Seiten
ISBN 978-3-421-04428-0
22,95 Euro
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