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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 27.05.2010


Rahel Varnhagen. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde
Angelina Boczek

Erstmals seit 1833 wieder veröffentlicht – das Ich in einer fremdbestimmten Welt. Das schriftliche Vermächtnis - Rahel, "die erste Jüdin der deutschen Literatur" endlich im Matthes & Seitz Verlag..




.. verfügbar.

Voraussetzungslos zu lesen ist dieses Buch nicht. Wer sich nie oder kaum je mit Literatur oder Geisteswelt des frühen neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt hat, wird mit den Texten Mühe haben und mit den vielen erwähnten Namen nichts anfangen können. LeserInnen, die den berühmten Berliner Salon Rahels bereits kennen und sich darüber konkrete Informationen versprechen, sollten neben diesem nun vorliegenden Werk auch auf weitere Veröffentlichungen zur Salonliteratur zurückgreifen.

Klug wäre es, auf "Rahel Varnhagen. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde" bezogen, das Nachwort, verfasst von Dr. Ulrike Landfester, zuerst zu lesen. Dort gibt es knappe, aber spannende Darlegungen, die die LeserInnen zunächst damit bekanntmachen, warum die Nennung der Autorin (Rahel – und nicht Rahel Varnhagen von Ense usw.) und des Titels kompromisslos gewählt wurden.
Ulrike Landfester gibt kurze biographische Einblicke in das Leben des Paares und skizziert die literaturgeschichtliche Stellung schreibender Frauen jener Zeit, denen Produktion von Literatur nicht zugetraut, nicht zugebilligt wurde, es war die Rede von "Unweiblichkeit", es hagelte Hohn und Spott für die, die es versuchten.

Einzig die Form des Briefes galt als weiblich, als Textform sekundär, jedoch Frauen angemessen.
"Gerade der Brief, und Rahels Werk besteht zu einem großen Teil aus Briefen, ist um 1800 tief in den engen Spielräumen der weiblichen Rollennorm verankert, die der Frau zwar im Rahmen privater Briefkommunikation ein gewisses Maß an protoliterarischen Gestaltungswillen zugesteht, dieser aber nicht in den hegemonial männlichen Diskursraum öffentlichkeitsadressierter Publikationsarbeit einzugreifen hatte"., so Dr. Ulrike Landfester.

Es handelt sich bei dem "Buch des Andenkens" um ausgewählte Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, die postum von ihrem Ehemann Karl A. von Ense 1833 veröffentlicht wurden, noch von Rahel selbst redigiert.
Diese Texte wurden nach einem ästhetischen Wert ausgewählt, nicht nach den uns geläufigen Kriterien, wie Vollständigkeit oder biographische Chronologie. Es existierten und existieren überaus zahlreiche Dokumente aus der Hand Rahels, die andernorts nach diesen Kriterien veröffentlicht wurden, hier aber geht es bei der Auswahl und Kombination der schriftlichen Zeugnisse um eine künstlerische Inszenierung. Deshalb warnt Ulrike Landfester auch im Nachwort davor, die Texte als authentische Zeugnisse zu nehmen, vielmehr handele es sich um eine in Szene gesetzte "idealtypische Weiblichkeit … einer Weiblichkeit freilich, die gerade in dem Maß, in dem sie als Verfasserin von Briefen und Tagebüchern innerhalb der zeitgenössischen Rollenform zu bleiben scheint, diese Norm inhaltlich permanent unterläuft:

Hochgebildet und meinungsstark, von unersättlicher intellektueller wie emotionaler Neugier, kompromisslos ehrlich und dabei von feinstem Taktgefühl im Umgang mit einem Spektrum von Korrespondenten, das von ihrer Köchin über Jugendfreunde und Familienangehörige, Dichter, Politiker bis zu den Angehörigen regierender Häuser reicht – und bei größter Verletzlichkeit von jenem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, mit dem sie am 16. Februar 1805 in ihrem berühmten Brief an David Veit die Worte schrieb: ´Ich bin so einzig, als die größte Erscheinung dieser Erde. Der größte Künstler, Philosoph oder Dichter ist nicht über mir. Wir sind vom selben Element. Im selben Rang, und gehören zusammen´"
, aus dem Nachwort von Dr. Ulrike Landfester.

AVIVA-Tipp: Wer das Buch auf der Folie oben geschilderter Voraussetzungen liest, sich der damaligen (romantischen) Kunstlehre, "Authentizität durch Stilisierung zu erzeugen" bewusst wird, wer die Tatsache ihrer jüdischen Herkunft und die spätere protestantische Taufe, Rahel nannte sich dann Friederike Antonie, als Identitätsbruch zu deuten vermag und nicht "zur Bedingung ihrer Selbstwerdung verklärt", wird Freude haben daran. Dass es für die Literaturwissenschaft nun wieder leicht zugänglich ist in dieser schön gedruckten Ausgabe, ist ebenso erfreulich.
In der Literaturliste des Bandes gibt es eine kleine Auswahlbibliographie, die zum Weiterlesen anregt, zur weiteren Beschäftigung mit der 1771 geborenen und 1833 in Berlin verstorbenen Schriftstellerin.

Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Gesammelt und herausgegeben von Karl A. Varnhagen von Ense
Mit einem Nachwort von Ulrike Landfester

Matthes & Seitz Verlag, erschienen 2010
Gebunden. 639 Seiten
ISBN 978-3-88221-848-0
39,90 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Rahel Varnhagen starb am 7. März 1833. Ihr Grab befindet sich auf dem Dreifaltigkeits-Kirchhof in Kreuzberg, Baruther Str./Ecke Mehringdamm, 10961 Berlin.
Rahel Varnhagen im Netz: www.varnhagen.info


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Beitrag vom 27.05.2010

Angelina Boczek