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Beitrag vom 18.05.2010
Nina Jäckle - NAI oder was wie so ist
Clarissa Lempp
Nai singt gern traurige Lieder und macht sich gemeinsam mit der Stimme der Erkenntnis auf, ein meisterliches Abenteuer zu bestehen. Ein sprachverspieltes, verliebtes Erwachsenenmärchen.
Alle, die sich für ein Denken jenseits (repressiver) gesellschaftlicher Dichotomien von Mann und Frau einsetzen, dürften nach dem Lesen der ersten Seite von Nina Jäckles Erzählung ein lautes "Hurra!" schreien, denn da heißt es über die Figur Nai: "Und ein Junge ist Nai nicht, und ein Mädchen ist Nai nicht, und das tut auch nichts zur Sache." Hurra!
Auf Seite 30 ist Nai dann plötzlich doch ein Junge, um genau zu sein, ein sehr kleiner Junge, der dann auch mit der "allerschönsten Frau der Welt", die wenig vom Superlativ in ihrer Bezeichnung hält, Hand in Hand unterwegs ist und ziemlich eindeutig auch verguckt ist in sie. Aber halt, wir wollen ja nicht Nai´s "meisterliches Abenteuer" schon verraten haben und keine Angst, die Geschichte endet nicht im Prinzessinnen-Stil, es gibt Rettung.
Nina Jäckles Roman "Nai" ist eine Geschichte, die sich um der Sprache Willen erzählt und dennoch eine, die sich gerne liest und klug ist. In kindlich sprödem, reduziertem Stil, trägt sich in fortlaufenden Dialogen, und inneren und äußeren Monologen, ein Spiel mit den Identitäten. Die Verwandlungen und Erscheinungen entstehen in diesem Ping-Pong von Fragen, Möglichkeiten und sprachlichen Wiederholungen, Deutungen und Umdeutungen. Die Stimme, die ein wenig überall und ein wenig nirgendwo ist begleitet Nai und wird zur Stimme der Erkenntnis, denn Dinge, die Nai nur leise zu fragen wagte, werden von ihr beantwortet. Der eigensinnige sprachliche Rhythmus, der das Abenteuer von Beginn an voran treibt, zieht die LeserInnen in diese Welt, die erst durch das Aussprechen ihrer (möglichen) Begebenheiten hervortritt. Alles ist wandelbar, alles ist Anschein und scheinbar wirklich, wenn nur genau nachgefragt wird. Sprache macht die Welt wie sie ist, Sprache macht Wirklichkeit und macht Wirklichkeit zur Illusion.
AVIVA-Tipp: Nina Jäckles Erzählung ist eine kleine Verblüffung und eine große Entdeckung. Denn das ist es, was sie schafft: in kleinen Worten eine simple Geschichte zu erzählen, und dabei durch Sprachkraft Großes unter zu bringen. "Nai" beginnt wie eine Kindergeschichte und wird zu einer Erzählung über das Hin- und Herschieben der Gedanken, über das konstruieren und dekonstruieren der (eigenen) Welt. Der kleine Junge Nai ist Kind und gleichzeitig weiser Reisender, staunender Fremder, trotziger Entdecker und unbedarfter Handlungserschaffender. Jäckles Umgang mit den Erzählebenen, das Dialogisieren, erinnert an den Dadaisten Walter Serner, nur weniger bemüht, wenn gleich abstrakt. Vielleicht ist "Nai" also die Dada-Version des "Kleinen Prinzen" von Saint-Exupéry, sicher aber ein Kleinod der Erzählfreude.
Zur Autorin: Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen im Schwarzwald geboren, wollte eigentlich Übersetzerin werden und besuchte nach der mittleren Reife eine Sprachschule in Paris. Mit 25 Jahren beschloss sie, lieber selbst zu schreiben. Außer in Süddeutschland und Paris lebte sie bislang auch in Hamburg, Wien, München, Rouen, Sevilla, Meißen, Berlin und auf Ibiza. Sie hat zahlreiche literarische Auszeichnungen und Stipendien erhalten, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Arbeitsstipendium des Landes Baden-Württemberg sowie das Heinrich-Heine-Stipendium und veröffentlichte bereits einige Erzählungen, Hörspiele, Romane, Theaterstücke. Zuletzt erschien im Berlin Verlag im März 2010 "Sevilla". Seit 2008 ist Nina Jäckle Mitglied im deutschen P.E.N.
Nina Jäckle
Nai oder was wie so ist
Erzählung
Klöpfer & Meyer, erschienen 2010
92 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN: 978-3-940086-44-0
14,90 Euro