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Beitrag vom 14.05.2010
Karl Emil Franzos - Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Petra Morsbach
Angelina Boczek
Der Autorin, Essayistin und Herausgeberin ist es zu verdanken, dass dieses faszinierende, 1905 erstmalig herausgegebene Buch neu erscheint, dessen Qualitäten oft ver- oder unerkannt blieben.
Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten? Das bereits 1905 postum zum ersten Mal erschienene, zwischenzeitlich immer wieder mal neu aufgelegte, jedoch weitgehend unbekannte Buch, spielt im alten Osteuropa, in einem jüdischen Dorf im damaligen Ostgalizien, einem Landstrich, der heute zur Ukraine gehört. In dieser Gegend wurde Karl Emil Franzos 1847 geboren, er kannte die Welt seines Romanhelden Alexander Glatteis, genannt "Sender der Pojaz", aus eigener Anschauung. Zwar geriet das Buch nie in völlige Vergessenheit, hatte aber kaum eine bedeutende LeserInnenschaft, und auch kaum jemand kannte und kennt den Autor, Schriftsteller und Journalisten Karl Emil Franzos, der unter anderem die erste Büchner-Gesamtausgabe herausbrachte und 1904 in Berlin starb, wo er die letzten 16 Jahre seines Lebens verbrachte.
Dass das Buch nun erneut erscheint, ist der Herausgeberin Petra Morsbach zu verdanken, selbst eine wunderbare Schriftstellerin, die ein kenntnisreiches Nachwort verfasst hat. Dort erfahren wir über Karl Emil Franzos, dass er leidenschaftliche Loyalität hegte "... gleichermassen zur deutschen Kultur wie zum jüdischen Glauben". Zwar thematisiert der Pojaz-Roman diese beiden Komplexe, ist aber wesentlich vielschichtiger, als eine nur "jüdische " Geschichte.
Pojaz (Bajazzo, Possenreisser), ist ein junger Mann, der unbedingt Schauspieler werden will, ein deutschsprachiger Schauspieler. Wir erleben die hinreißende Geschichte des bettelarmen Außenseiters Sender, wie er es anstellt, deutsch sprechen, lesen und schreiben zu lernen - im jüdischen Ghetto um 1850 ein Sakrileg und kaum zu bewerkstelligen. Die Hindernisse werden vom Autor lebhaft, authentisch und oft voller Komik erzählt.
Wir nehmen teil an der abenteuerlichen Reise des jungen Sender auf dem Weg zu seinem Wunschtraum, wir erleben, wie er leidet und liebt (übrigens die einzige moderne, emanzipierte Frau des Ortes), wie er hintergeht und verwünscht, er ist gewitzt und kritisch, ernsthaft und naiv, ein Jude und ein "Deutsch´ ". Die spannende Handlung wird durch unerwartete Wendungen und mit originellen Nebenfiguren vorangetrieben, teilweise an dramatischen Schauplätzen. Wir lernen Hauptfiguren des Shtetls kennen, den Rabbi, den Heiratsvermittler und den Schnorrer, die jedoch im Roman teilweise ebenso widersprüchliche Rollen spielen wie ein christlicher Soldat und ein abtrünniger, strafversetzter Dominikaner.
Wir fiebern mit dem fiebernden, kranken Sender und wünschen, er möge sein Ziel, seinen Lebenstraum, auf der Bühne in Czernowitz glänzen zu können (denn er IST begabt!), erreichen. Wir hoffen und zittern mit, ob er es schafft, sich von der Pflegemutter Rosel zu lösen, denn an sie ist er gebunden, wie auch an seine Herkunft, die jüdische Gemeinde, die in ihm einen Abtrünnigen sieht, schon allein deshalb, weil er über Deutschkenntnisse verfügt.
Franzos verzichtet auf stereotype Charaktere zugunsten realistischer Gestalten, die uns sympathisch sind wegen ihrer menschlichen Schwächen oder wegen ihres unguten Schicksals, wenngleich er durchaus den richtigen Ton trifft, bigotte Juden und Christen zu beschreiben, adlige Betrüger, fanatische Antisemiten oder sadistische Militärs.
Widersprüchlich und realistisch, wie der Protagonist selbst, wie das wirklich wahre Leben, ist auch das Finale.
Wer sich an literarischen Entdeckungen erfreut, sich lesend amüsieren und unterhalten will, wer eintauchen möchte in eine Welt von vor mehr als 150 Jahren, dem und der sei dieses "unmodische" Buch ans Herz gelegt. Petra Morsbach spricht von einem "stillen Klassiker".
Von Karl Emil Franzos sind weitere Titel neu und antiquarisch zu erwerben,
darunter "Die Juden von Barnow" und "Das Kind der Sühne" oder "Ein Kampf ums Recht".
Zur Herausgeberin: Petra Morsbach, 1956 in Zürich geboren, schrieb Romane, so "Plötzlich ist es Abend", "Gottesdiener" "Der Cembalospieler" und einen sehr aufschlussreichen Essay über Literatur: "Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens", für den sie 2007 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt.
Karl Emil Franzos
Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Petra Morsbach
Verlag Sankt Michaelsbund, erschienen Mai 2010
Gebunden, 510 Seiten
Preis: 26,90 Euro
ISBN 978-3-939905-59-2