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Beitrag vom 14.05.2010
Venetia Dearden - Glastonbury Another Stage
Marie Heidingsfelder
"The festival is a mass public mosaic", so heißt es in der Einleitung zu Venetia Deardens großartigem Bildband, in dem sie auf sechs Festival-Sommer im legendären Glastonbury zurückblickt.
Wenn das T-Shirt am Rücken klebt, die Haare nach Chlor riechen, die Bewegung schwer fällt und man trotzdem glücklich ist, dann ist Sommer. Wer sein Glück außerdem in Nächten im Zelt, Plastiktoiletten und Schlammfeldern findet, der oder dem wird das "Glastonbury Festival of Contemporary Performing Arts" ein Begriff sein. Geboren aus der Hippie-Bewegung zieht es seit den Siebziger Jahren Sommer für Sommer kunst- und musikbegeisterte Menschen nach Südengland, in die Nähe der mythischen Stadt Glastonbury. Entstanden ist so eines der weltweit größten Open-Air-Festivals mit einem breiten Spektrum an Musik, Tanz, Theater, Comedy und Zirkus-Acts.
Begeistert von der Atmosphäre und dem bunten Mosaik von Menschen hat die englische Fotografin Venetia Dearden das Festival über sechs Jahre mit ihrem mobilen Fotostudio begleitet und dokumentiert. Entstanden sind eindringliche Landschaftsaufnahmen und Portraits, wobei Dearden bis auf sehr wenige Ausnahmen bewusst Orte und Menschen getrennt zeigt: Das Festival-Gelände ist seltsam leer, nur die Zelte und Baugeräte lassen ahnen, dass hier Menschen zusammen kommen werden.
Die Portraits der BesucherInnen, HelferInnen, OrganisatorInnen und KünstlerInnen wurden dagegen vor einem vollkommen neutralen weißen Hintergrund aufgenommen. Fast wirkt es, als hätte Dearden sie wie bunte Schmetterlinge gefangen, mit Namen etikettiert und in einen Schaukasten sortiert, um sich in Ruhe mit den Bestandteilen des "englischen Woodstock" auseinander zu setzen.
Der Künstlerin gelingt es, die anonyme bunte Masse in ihre individuellen Bestandteile zu zerlegen, ohne dass jemals in Zweifel steht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. In jedem Portrait findet man eine andere Facette des Festivals, eine andere Motivation, einen anderen Hintergrund, eine andere Weltsicht – und doch kann man sie sich problemlos zusammen vorstellen, vereint im Spaß an der Musik, der Kunst und dem Wunsch, für drei Tage aus dem Alltag auszubrechen.
Die Portraits zeigen die beeindruckende Buntheit, die Glastonbury ausmacht: Schrille Outfits, Kostüme, Schminke, Tätowierungen, Piercings, akrobatische Einlagen und immer wieder ganz viel Matsch. Die Aufnahmen sind nicht sortiert, so dass KünstlerInnen wie Amy Winehouse und Paul Weller erst auf den zweiten Blick auffallen. Im Vordergrund stehen nicht große Namen, sondern das Miteinander.
Beeindruckend ist Deardens Konzept, fast immer nur höchstens zwei Menschen gemeinsam zu fotografieren, um ein Event mit beinahe Zweihunderttausend BesucherInnen zu dokumentieren. Ihr Mut wird belohnt: Die Orte schreien so sehr nach Menschen, wie die Menschen nach einem gemeinsamen Platz, dass die Spannung zwischen beiden fast automatisch in der Vorstellungskraft der BetrachterInnen aufgelöst wird. Das Festival entsteht im Kopf.
Gleichzeitig öffnet sie mit diesem Konzept einen intimen Zugang zu Glastonbury, denn statt einer unverständlichen und unübersichtlichen Menge konfrontiert zu sein, hat man als BetrachterIn die Zeit, sich mit den Einzelnen zu beschäftigen.
Den wenigen Aufnahmen, die Menschen auf dem Gelände zeigen, gelingt es ebenfalls, eine gewisse Intimität zu vermitteln. Dearden zeigt Szenen aus der Event-Peripherie: Eine junge Frau mit einer Dose Bier am Begrenzungszaun, Menschen im Sonnenuntergang auf dem Heimweg, im Regen ertrinkende Buden... Nur vier Aufnahmen ähneln den typischen Konzert-Bildern mit einer scheinbar außer Rand und Band geratenen Masse.
Was nach dem Zuschlagen des Bildbands wohl selbst den hartnäckigsten All Inclusive Urlaub Fans bleibt, ist der drängende Wunsch, wenigstens einmal mit einer feiernden Menschenmenge im knietiefen Schlamm zu stehen - Venetia Dearden überzeugt und berührt.
AVIVA-Tipp: "Glastonbury Another Stage" ist der perfekte Bildband zur Vorbereitung auf den kommenden Festival-Sommer. Venetia Dearden ermöglicht einen sehr intimen und liebevollen Blick auf die Menschen, die Glastonbury ausmachen und verliert trotzdem nie den Blick und die Begeisterung für das große Ganze.
Zur Fotografin: Venetia Dearden wurde 1975 geboren und wuchs in der Nähe des Glastonbury-Festivals auf. Sie lebt und arbeitet heute in London. Ihre Publikationen und Ausstellungen sind international gefragt, die Fotografin veröffentlicht in Magazinen wie Vogue oder Wallpaper. Ihr erster Bildband "Somerset Stories – Fivepenny Dreams" erschien 2008, ebenfalls im Kehrer Verlag.
Weitere Infos und Kontakt finden Sie unter: www.venetiadearden.com
Venetia Dearden
Glastonbury Another Stage
Kehrer Verlag, erschienen April 2010
Sprache: Englisch
Gebunden, 368 Seiten
ISBN-13: 978-3868280463
29,95 Euro