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Beitrag vom 16.04.2010
Toni Morrison - Gnade
Claire Horst
Wer die Inhaltsangabe des neuen Romans von Toni Morrison liest, hat sofort Nina Simones Hit "Four Women" im Ohr. Hier wie dort geht es um die Schicksale von vier Frauen. Bei Simone sind alle ...
... vier schwarz. Ihr Song thematisiert die Stereotypisierung und Unterdrückung schwarzer Frauen durch eine weiß dominierte Gesellschaft.
Darin liegt die Parallele zu Morrison: Wie in ihren früheren Werken behandelt sie auch in "Gnade" die Unterdrückung von Frauen. Ihre vier Protagonistinnen sind allerdings unterschiedlicher Herkunft. Ob in England geboren, Ureinwohnerin Amerikas, Sklavin oder Waisenmädchen, sie alle sind abhängig von dem gleichen Mann, dem Farmer und Geldleiher Jacob Vaark. Schauplatz ist Delaware, Spielzeit ist das späte 17. Jahrhundert. Der Sklavenhandel ist gerade frisch erblüht, Nordamerika noch am Beginn seiner Eroberung durch die KolonialistInnen.
Florens ist die erste der "four women". Etwa sechzehn muss sie sein, glaubt sie, nach dem Zustand ihrer Zähne zu schließen. "Lass mich mit dem beginnen, was ich sicher weiß", so beginnt sie ihre Erzählung. Florens ist auf dem Weg zu einem zunächst namenlosen "du", den sie liebt, sie kann lesen, anders als Lina, die Indianerin, und Sorrow, das schwarze Waisenmädchen. Ihrer Mutter wurde sie weggenommen, weil deren Besitzer eine Schuld nicht begleichen konnte. Mehr erfährt die Leserin nicht, bevor die Erzählperspektive wechselt.
Jacob Vaark ist auch ein Kapitel gewidmet, er erzählt jedoch nicht in der Ich-Form. Sicherlich ist es nicht einfach, sich in ihn hineinzuversetzen, in einen Mann, der seine Frau in England gekauft hat und ihr zur Unterstützung ebenfalls gekaufte, "farbige" Frauen an die Seite gestellt hat. Deshalb vielleicht wirken die Erzählpassagen, die von Jacob handeln, weniger überzeugend als der übrige Roman. Zu konventionell erzählt Morrison hier, lässt Jacob über seine Moralvorstellungen reflektieren, die eigentlich sehr lobenswert sind. Gegen seinen Willen hat er die Sklavinnen gekauft, seine Frau liebt er wirklich, die papistischen Siedler sind ihm ebenso zuwider wie die protestantischen. Und doch will sich nur wenig Sympathie mit ihm einstellen, als die Erzählung wieder zu Florens wechselt.
Mit jedem Erzählerwechsel tritt auch ein Zeitsprung ein. Die Heirat zwischen Jacob und Rebekka, Rebekkas Aufenthalt auf dem Schiff nach Amerika, die Monate in einem dunklen Loch unter Deck, wo sie mit verbannten Prostituierten zusammen eingepfercht war, die Tode ihrer Kinder, die Zerstörung von Linas Dorf, all dies erzählen die ProtagonistInnen im Rückblick, während Florens, in der Erzählzeit, berauscht vor Liebe ist.
Ihre Liebe gehört dem Schmied, dem ersten freien Schwarzen, den die ProtagonistInnen jemals erlebt haben: "... und dann tat er etwas, was Lina noch niemals bei einem Afrikaner gesehen hatte: Er sah die Herrin offen an". Der Schmied ist die einzige Figur im Roman, die frei über ihr Leben entscheidet. Denn auch die Weißen leben zum Teil in Sklavenschaft, müssen Schulden ihrer Väter oder ihre Überfahrt abarbeiten. Das Amerika, von dem Morrison erzählt, hat nichts vom romantischen "Wilden Westen". Es ist ein barbarisches, mitleidsloses und unmenschliches Land, in dem Frauen ihre Kinder im Freien gebären, assistiert von ein paar raubeinigen Hilfsarbeitern, in dem Menschen qualvoll an den Pocken sterben, in dem ganze Dörfer ausgerottet werden, weil ihre BewohnerInnen die falsche Hautfarbe haben.
Lina stammt aus einem solchen Dorf. Von den Weißen hat sie eine klare Meinung. "Europäer konnten in aller Seelenruhe Mütter niedermetzeln und alten Männern das Gesicht mit Musketen wegblasen, die lauter waren als der Ruf eines Elchs, aber wenn ein Nichteuropäer ihnen ins Auge schaute, schäumten sie vor Wut. Mit der einen Hand legten sie Feuer an deine Hütte, mit der anderen nährten, pflegten und segneten sie dich."
Dennoch entsteht zwischen den so unterschiedlichen Frauen Florens und Lina, Rebekka und Sorrow eine enge Beziehung. Sie sind aufeinander angewiesen. Ihre zerbrechliche Freundschaft wird mit dem Tod von Jacob, der das Bindeglied darstellte, zerstört. "Einst glaubten sie, sie wären eine Art von Familie, weil sie zusammen Einsamkeit verwandelt hatten in Gemeinschaft. Aber die Familie, die sie geworden zu sein glaubten, war nur Schein."
AVIVA-Tipp: Morrisons Blick auf die Welt dieser Frauen ist unerbittlich. Auch Männer sind bei ihr Opfer, ebenso abhängig und ausgeliefert wie die Frauen. Und doch erlaubt sie sich und uns einen kleinen Hoffnungsschimmer für ihre Figuren und die Welt. Eine Aussöhnung ist bei ihr sogar mit den Toten möglich. Ein sehr poetisches und manchmal wütendes Werk - die inzwischen fast achtzigjährige Morrison scheint sanfter geworden zu sein. Ihren Zorn und ihre Sprachgewalt hat sie zum Glück trotzdem nicht verloren.
Zur Autorin: Toni Morrison wurde am 18.2.1931 in Lorain, Ohio geboren. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen u. a "Sehr blaue Augen", "Solomons Lied" "Menschenkind", "Jazz", "Paradies" und die Essaysammlung "Im Dunkeln spielen". Morrison zählt seit langem zu den bedeutendsten AutorInnen Amerikas. Seit 1989 ist sie Professorin für afroamerikanische Literatur an der Princeton University. Auszeichnungen: National Book Critics´ Circle Award (1978), American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur (1980), Cleveland Arts Award für Literatur (1980), Robert F. Kennedy Book Award (1988), Melcher Book Award (1988), Unitarian Universalist Award (1988), Nobelpreis für Literatur (1993), Commandeur des Arts et des Lettres, Frankreich (1993). (Verlagsinformationen)
Toni Morrison
Gnade
Deutsch von Thomas Piltz
Rowohlt Verlag, erschienen 2010
Hardcover, 224 Seiten
Erschienen am 12.03.2010
18,95 Euro
ISBN: 978-3-498-04512-8
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