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Beitrag vom 13.12.2009
Kai Artinger - Paula Modersohn-Becker. Der andere Blick
Kristina Tencic
Heutzutage gilt Paula Modersohn-Becker als DIE deutsche Künstlerin und als weibliches Pendant zu Picasso. Mit einem anderen Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Bremer Malerin, möchte ...
... der Kunsthistoriker den LeserInnen zu verstehen geben, warum dies erst über 100 Jahre nach ihrem Tod so ist.
Eigentlich müsste frau an dieser Stelle zu einem erneuten Loblied auf die neben Käthe Kollwitz einzige große deutsche Künstlerin des beginnenden 20. Jahrhunderts ansetzen, die Bremer Malerin als eine "Pionierin" des Feminismus und als eine Wegbereiterin moderner Kunst preisen. Dies, so resümiert der Autor, entspricht jedoch lediglich dem Wunschdenken und den überstülpenden Idealschablonen unserer heutigen (Kunst-)Gesellschaft, die sich gerne Vorbilder im Dschungel unserer schnellen Welt erschaffe.
Dass Paula Modersohn-Becker (1876-1907) nur bedingt diese ihr zugeschriebene Rolle bedienen kann, beweist Artinger mit seinem 160 Seiten umfassenden "Ja aber". Und so betrachtet er die Wirkungs- und Entstehungsgeschichte der erst 80 Jahre nach ihrem Tod eingetretenen Popularität unter einem anderen Blickwinkel. Der Autor fragt sich, wie es dazu kommen konnte, dass kaum eine Biografie Modersohn-Beckers die ambivalenten Aspekte ihres Künstlerdaseins erfasst, geschweige denn analysiert hat.
Kai Artinger benennt somit die vermehrt feststellbare Ambiguität der jung im Kindsbett verstorbenen Künstlerin, wie etwa ihre Einordnung als "völkische" Malerin, die das "Wesenhafte" erkannt haben soll und wegen dieser Attribute von ihrem größten Förderer, dem Bremer Industriellen Ludwig Roselius, geschätzt wurde. Dieser wiederum war ein Unterstützer der Nationalsozialisten, die Modersohn-Becker zwar eine "germanische Rassebegabung" zusprachen, sie jedoch - glücklicherweise, aus heutiger Sicht - der "entarteten" Kunst zuordneten. Erst seit den 1980er Jahren hat die deutsche Künstlerin ihren internationalen Charakter inne und wird als weiblicher Picasso gefeiert.
Indes, ob frau/man das Malen deutscher Wälder und deutscher Bauersfrauen als "deutsche" Kunst bezeichnen möchte, sei zu bezweifeln. Es ging hierbei wohl vielmehr um die Instrumentalisierung der Bremer Künstlerin im Kontext deutsch-französischer Feindschaft. Denn gleichzeitig erwuchs aus Modersohn-Beckers Studienaufenthalten in Paris der Vorwurf, die junge Bremer Künstlerin habe sich ihre Motive und Malweise lediglich bei den dort ausgestellten Impressionisten abgeschaut. Somit sprachen ihr die damaligen KritikerInnen genau die Originalität und Eigenständigkeit ab, für die sie heute wiederum bewundert wird. Sie wird nunmehr dem Frühexpressionismus zugeordnet.
Eine weitere Zwiespältigkeit zeigt sich in Hinblick auf das 1927 unter Roselius errichtete Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen, welches sich als das weltweit erste Museum bezeichnet, das einer Malerin gewidmet wurde. Denn ganz so leicht war ihr Weg zu musealer Präsenz und Kunstsammlungen nicht. Als sie 1899 zum ersten Male in der Bremer Kunsthalle unter Gustav Pauli ausstellte, zwang sie vernichtende Kritik zu Boden und die Malerin zog ihr Werk zurück. Zeitlebens verkaufte Modersohn-Becker lediglich drei Gemälde. Die überbordende Kritik an ihrem Oeuvre speiste sich an Adjektiven wie "hässlich" oder "abartig" - was auch später dazu führte, dass sie dem Schönheitsideal des Dritten Reiches widersprach.
Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sind vor allem zwei Gemälde der Künstlerin bekannt, welche auch ihre Vorreiterrolle im Feminismus belegen sollen: "Liegende Mutter mit Kind" und das "Selbstbildnis am sechsten Hochzeitstag", auf dem Modersohn-Becker mit schwangerem Bauch zu sehen ist. Doch nicht nur die Tatsache, dass ihre zwei berühmtesten Gemälde erst heute Pioniergeist zugesprochen werden, steht im Widerspruch zu ihrer Rezeptionsgeschichte - ihre Werke waren damals schlichtweg nicht so bekannt, als dass sie einen solchen Effekt hätten erzielen können. Auch enthebt Artinger die in ihrem Oeuvre dominierenden Mutter-Kind-Darstellungen ihrem idealistischen Kontext und stellt ihnen rein praktische Erwägungen gegenüber: Mütter, Kinder und Alte waren es, die über die nötige Zeit verfügten sowie bereit waren, gegen einen geringen Obolus der jungen und unbekannten Künstlerin Modell zu sitzen. Somit entlarvt er das heutzutage so oft bei Modersohn-Becker konstatierte "Urverhältnis" zwischen Mutter und Kind, das zu jener Zeit und in der Gesellschaftsklasse, welche die junge Malerin in Worpswede porträtierte, wohl durchaus nicht so fürsorglich und liebevoll war, wie es gemeinhin angenommen wird.
Obgleich sich die Künstlerin, deren Doppelnamen der Eheschließung mit dem Worpsweder Künstler Otto Modersohn entsprang, künstlerisch auf einer Ebene mit ihrem Gatten sah, steht sie in einer demütigen Beziehung zum männlichen Geschlecht, was ersichtlich wird, wenn sie - ganz im Sinne damaliger Zeit - die Frau in den Bereich des Tieres und nicht des Menschen einordnet. Artinger relativiert somit auch hier die ihr zugesprochene Rolle der Feministin.
AVIVA-Tipp: Entlarvt steht die Künstlerin Paula Modersohn-Becker nun vor ihrem Publikum und was sehen wir mit diesem anderen Blick? Eine Frau, die sich mit voller Hingabe und Leidenschaft einem Beruf verschrieben hat und fast ein ganzes Jahrhundert warten musste, bis sie zu ihrer vollen Größe aufstieg. Verdient hat sie den späten Ruhm, doch hat Kai Artinger klug den Punkt getroffen, wenn er untersucht, worauf dieses aufflammende Interesse um die zum Mythos stilisierte Künstlerin Paula Modersohn-Becker beruht.
Zum Autor Kai Artinger wurde 1963 in Bremen geboren und ist promovierter Kunsthistoriker, Ausstellungskurator und Autor. Er publizierte zwei Krimis ("Tod in Worpswede", 2003 und "Novembermorde, 2005) und zahlreiche Essays zur Kunst- und Kulturgeschichte. Er lebt und arbeitet in Hamburg. (Quelle: Literaturhaus Bremen)
Paula Modersohn-Becker. Der andere Blick
Kai Artinger
Gebr. Mann Verlag, erschienen 2009
Broschiert, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7861-2596-9
19,90 Euro
www.reimer-mann-verlag.de
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