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Beitrag vom 11.01.2010
Kathrin Gerlof - Alle Zeit
Birgitt Wählisch
Erzählt wird über die Verbindung zwischen den Generationen, das Altwerden, das Vergessen und das Neugeborensein. Eine Reise in die Zeit kurz nach dem Krieg, in die DDR-Geschichte bis ins Heute.
Mitten im Winter. Eine alte, schon etwas gebrechliche Frau und eine junge Schwangere treffen sich zufällig im verschneiten Park. In einem kurzen Moment lassen sich die beiden aufeinander ein, die verwirrte Frau und das Mädchen mit den grünen Haaren. In den wirren Geschichten der alten Dame blitzt etwas Bekanntes auf, eine Geschichte von "nichtbrennbaren Kopftüchern". Ein kurzer Moment der Nähe. Werden die beiden sich wiederfinden? Was verbindet sie?
Vorgestellt werden den LeserInnen vier Frauen einer Familie. Die Familienbande wurden irgendwann zerschnitten. Die Gründe für den Kontaktabbruch haben auch mit Zeitgeschichte zu tun, mit missglückter Flucht und Verrat. Das Buch ist auch ein Buch über die Suche nach Familie . Menschen wollen wissen, zu wem sie gehören, woher sie kommen und wer um sie trauert, wenn sie gehen. Bei der jungen Frau, Juli, gibt es diese unbestimmte Sehnsucht nach einem Aufspüren der eigenen Wurzeln. Die alte Frau, Klara, kämpft gegen das Vergessen. Dazu gehört auch, den Halt durch Angehörige zu finden. Die eine scheint noch alle Zeit der Welt zu haben, die andere weiß, wie wenig Zeit ihr noch bleibt.
Besonders hervorzuheben ist Kathrin Gerlofs sensible Beschreibung von Alter und Demenz. Das Leben in einem Altenheim wird anrührend und gleichzeitig sehr realistisch geschildert. Langsam, aber sehr bewusst gehen Erinnerung und Selbständigkeit Stück für Stück verloren. Die Autorin beschreibt in einer lakonischen Sprache die kleinen Malheure des Alltags, in denen sich bereits andeutet, dass es nicht besser sondern schlimmer werden wird. Vor Augen sind immer die anderen, deren Krankheit schon weiter fortgeschritten ist, die nicht mehr allein nach draußen gehen und irgendwann auch ihre Zimmer nicht mehr verlassen können.
Es gibt bei all dem auch Hoffnung, denn trotzdem gibt es auch in dieser Situation glückliche Momente. Beschrieben wird die aufkeimende Liebe zwischen Aaron, einem alten Juden, und Klara, einer alten, deutschen Frau. Sie wissen, es wird die letzte Liebe ihres Lebens sein und es wird nicht lange dauern. Ein letztes kleines Abenteuer noch. Noch einmal all das tun, was Liebespaare in jedem Alter tun. Beiden ist bewusst, trennend ist nicht nur der Tod, auch das langsame Vergessen trennt die Liebenden. Jeden Morgen die Frage "Wird sich der andere noch erinnern, wird er mich erkennen? Wer von uns wird als erstes gehen?"
Parallel dazu lernen wir die Gefühlswelt einer viel zu jungen Mutter kennen. Sie ist auf eine ganz eigene Art glücklich. Das neugeborene Kind lässt sie die Welt plötzlich ganz anders betrachten. In alten Sachen kramend, will sie auch für ihre Tochter die Vergangenheit wieder finden. Die Familiengeschichte wird fortgeschrieben. Der Kreis schließt sich.
Zur Autorin: Kathrin Gerlof , geboren 1962 in Köthen/Anhalt. Journalistikstudium, Redakteurin bei verschiedenen Tageszeitungen. Lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Debütroman "Teuermanns Schweigen" erschien 2008 im Aufbau Verlag und wurde von der Kritik gefeiert." (Quelle: Verlagsinformation). Weitere Infos und Kontakt: www.textbuero-gerlof.de
AVIVA-Tipp: Mit ihrer dichten Sprache gelingt es Kathrin Gerlof, die Lebensgeschichten über Jahrzehnte miteinander zu verbinden. Was die beiden Frauen im Park miteinander zu tun haben, ob es ein Happy End für sie gibt… "Alle Zeit" bleibt bis zur letzten Seite spannend und anrührend. Ein wunderbares Buch, das Leserinnen und Leser kaum aus der Hand legen werden.
Kathrin Gerlof
Alle Zeit
Aufbau Verlag Berlin, erschienen 2009
Hardcover, 229 Seiten
ISBN: 978-3-351-02703-2
Preis: 18,95 Euro