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Beitrag vom 28.12.2009
Rachida Lamrabet - Frauenland
Claudia Amsler
"Welcher Kerl nimmt schon Unterwürfigkeit auf sich? Jetzt einmal ganz im Ernst, du bist also bereit, für Europa deine Würde zu verhökern?" Die marokkanischen Männer bezeichnen den Westen als...
...Frauenland, denn sie sind der Meinung, dass Frauen dort das Sagen haben. Doch der Roman thematisiert nicht nur die unterschiedlichen Geschlechterverhältnisse zwischen dem Westen und dem Islam, sondern auch die große Suche nach der eigenen Identität.
"Mara. Nenn mich Mara. Das ist der Name, den ich mir selbst gegeben habe." Selbstbestimmung - dieses Wort ist für Mariam, die sich nun Mara nennt, der Schlüsselbegriff für die grenzenlose Freiheit des eigenen Ichs. Als Kind ist sie mit ihrer Familie von Marokko nach Belgien gezogen. Doch Mariam wollte sich ganz von ihren Wurzeln, von ihrer Religion, dem Islam loslösen und entschloss sich, ihre Familie zu verlassen und in die Politik zu gehen. Als erfolgreiche Neopolitikerin wirbt sie als Migrantin "für mehr Farbe" und gleichsam lehnt sie das muslimische Kopftuch ab. Ihre Familie fühlt sich durch diese Emanzipation hintergangen von ihrer Tochter – sie kann und will diese Ablösung nicht verstehen.
Rachida Lamrabet zeigt mit dem Charakter der Mariam die kulturellen Differenzen zwischen dem Islam und dem Westen auf, ohne jegliche Wertung einzunehmen. Zudem spricht sie die Schwierigkeiten der eigenen Identitätssuche und auch die stetige Erinnerung an die eigenen Wurzeln an, welche nie absolut ausgelöscht werden können. Obwohl Mariam eine zentrale Rolle in "Frauenland" einnimmt, ist sie lediglich eine Perspektive von vielen. Doch sie ist der Ausgangspunkt - der Auslöser für die Träume, welche sich im Verlauf des Romans in allen Charakteren widerspiegeln.
Bevor die Traumwelt die Handlung dominiert, wird die Leserin an den marokkanischen Strand geführt, wo Mariam in Ferienlaune auf den jungen Mann Younes trifft. Aus dieser entspannten Stimmung entwickelt sich eine Liebe, die sich jedoch nicht verflüchtigen will, sondern sich tief im Herzen von Younes verankert. So tief, dass er Mariam einen Heiratsantrag macht. Der Antrag wird erwidert, doch so schnell das "Ja" erklingt, so kurzfristig ist die Abreise von Mariam. Der Student Younes gibt diese Liebe zu keiner Zeit auf, vergisst das Ja-Wort nicht und schreibt treu seiner Geliebten Briefe - Wörter, die fünf Jahre unbeantwortet bleiben.
"DER WESTEN: Die Zukunft und die Liebe." Diese Phrase nimmt sich Younes zu Herzen und folgt ihm auch. Denn er macht sich mit zwei Freunden auf die Reise nach Abendland - über das stürmische Meer - hin zu seiner geliebten Mariam. An der Brust stets sein Gebet für Mariam tragend. "Wenn dich die Liebe ruft, so folge ihr, auch wenn ihre Wege schwer und steil sind. Und wenn ihre Flügel dich umfassen, gib ihr nach, auch wenn das Schwert in ihrem Gefieder versteckt dich verwunden kann. Und wenn sie zu dir spricht, glaube ihr." Doch der couragierte Younes gelang nie zu seiner Geliebten, denn die Wellen nahmen ihm schlussendlich das Leben..
Neben der unvollendeten Liebe zwischen Younes und Mariam, eröffnet die Autorin Rachida Lamrabet weitere individuelle Geschichten. Diese bilden eigene persönliche Historien, die dennoch nicht als einzelne Nebenerzählungen wirken, sondern sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. So beispielsweise die von Faïza, dem Nachbarmädchen von Younes, die ihm seit klein auf verfallen ist. Sein Tod löst bei ihr Hungerstreiks aus, Übernachtungen auf dem Friedhof und die große Frage, wer seine Geliebte Mariam ist. Die Charaktere, so differenziert sie auch sein mögen, beginnen denselben Traum zu haben. Es scheint so, als würde sich der verstorbene Younes in die Phantasiewelt einschleichen, um endlich eine Antwort auf seine Briefe zu erhalten.
Rachida Lambaret benutzt diese Liebesgeschichte geschickt, um die verschiedenen Perspektiven im Roman, welche beinahe auseinanderdriften, wieder zusammen zu fügen. Denn Mariam wird aufgrund des Todes von Younes wieder mit ihrer Familie - mit ihrer Herkunft - konfrontiert. Und so wird ihr klar, dass sie ihre eigene Geschichte doch nicht so einfach hinter sich lassen kann.
Nicht nur Mariam befindet sich in diesem Konflikt, vielmehr erleben alle ProtagonistInnen diese Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne. Die Frage nach dem eigenen Ich - der individuellen Identität - ist ein zentraler Aspekt des Buches und Rachida Lamrabet zeigt am Ende des Romans auf, dass die persönliche Vergangenheit - die Familie, das Herkunftsland, die Religion - nicht einfach vergessen werden kann, sondern ein Teil von der eigenen Identität ist, auch wenn frau sich damit nicht mehr identifizieren kann.
AVIVA-Tipp: Der Roman "Frauenland" ist ein mannigfaltiges Buch und das nicht nur wegen der verschiedenen Perspektiven, sondern auch aufgrund des Schreibstils. Rachida Lamrabet schiebt hier und da marokkanische wie auch arabische Wörter hinein, welche der Leserin die kulturellen Unterschiede nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich näher bringen. Es werden Fragen aufgeworfen, die nie an Aktualität verlieren - Fragen über Heimat, Emigration, Liebe und das nie endende Rätsel des Glücks.
Zur Autorin: Rachida Lamrabet wurde 1970 in Marokko geboren und lebt in Belgien. Sie arbeitet als Juristin im Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung von Rassismus in Antwerpen. 2006 erhielt eine Erzählung von Rachida Lamrabet den Literaturpreis von Kif Kif, ihr Debüt "Frauenland" gewann den Vlaamse Debuutprijs 2009, und ihr neuer Band mit Erzählungen, "Een kind van God", wurde 2008 mit dem BNG Nieuwe Literatuur Prijs ausgezeichnet. (Quelle Verlagsinformation)
Rachida Lamrabet
Frauenland
Ãœbersetzerin: Heike Baryga
Originaltitel: Vrouwland (Meulenhoff/ Manteau, Antwerpen 2007)
Sammlung Luchterhand, erschienen Dezember 2009
Taschenbuch, 249 Seiten
ISBN-13: 978-3-630-62175-3
9,00 Euro
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