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Beitrag vom 20.11.2009
Siegfried Kracauer - Straßen in Berlin und anderswo
Adriana Stern
Seinen Texten wohnt eine stille, unwiderstehliche Kritik inne, die nicht in messerscharfen Analysen daherkommt, sondern in beinahe flüsternder, wachsamer, kristallklarer Wahrnehmung von Wirklichkeit
Kracauer ist Architekt, Romancier, Journalist, Soziologe, Literat, Philosoph, Historiograph des Films und ein Poet. Scheinbar unvereinbare Disziplinen, doch gerade darin liegt die Stärke und Brillanz seiner Texte, die unglaubliche, imaginäre Kraft und Genialität seines Schreibens.
Kracauers Beobachtungen und Beschreibungen in "Straßen in Berlin und anderswo" bewegen sich in den Zwischenräumen, in den Randbezirken dessen, was die damalige und wohl auch heutige maßgebliche Gesellschaftsschicht als Zentrum anerkennt. Er findet seine Themen an den Orten und Plätzen "der kleinen Leute" in den Straßen, den Revuen, den Warenhäusern, Cafés, Wärmehallen und Arbeitsnachweisen, den Imbissbuden, Lichtspielhäusern, Häfen und dem Jahrmarkt. Diese Orte waren in den zwanziger Jahren, als Kracauer sich vom Lokalreporter der Frankfurter Zeitung zum Kulturkritiker der Weimarer Republik entwickelte, "übersehene und namenlose Orte zwischen den Klassen."
Seine Gesellschaftsanalysen sind das Ergebnis eines außergewöhnlichen Wirklichkeitszugangs. Kracauers bevorzugtes Verfahren ist, "das Fremde im Vertrauten heimisch zu machen, indem er auf das Vertraute einen unheimlichen Blick wirft." Dieses Verfahren wendet er in jedem einzelnen der 52 Texte an. Er misst vor allem dem Alltäglichen und dem Nichtbeobachteten besonderen Wert bei und entwickelt daraus seine Methode, "den Grundgehalt einer Epoche gerade an den unscheinbaren Oberflächenerscheinungen abzulesen."
Aus den vermeintlich zufälligen Zeichen und Phänomen der Populärkultur, die er bei seinen Streifzügen vor allem durch Berlin und Paris entdeckt, und die er Raumbilder nennt, diagnostiziert er das Wesen einer neuen Gesellschaft. Kracauer entlarvt die neue Architektur als Mittel der Trennung von Gesellschaftsschichten. So rückt er verschiedene Passagen, wie wir sie gerade in den letzten Jahren in Deutschland wieder häufiger finden, in den Fokus seiner Beobachtung. Passagen als Orte für die "Oberen", in deren Schlupfwinkel sich diejenigen befinden, die aus ihr von eben jenen ausgeschlossen wurden. "Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft" stellt Kracauer in diesem Buch fest. Oder auch die Alpträume, wie er in seiner eigenwilligen Art, allen Disziplinen gleichsam entfliehend und aus ihnen erwachsend, beweist.
Ziemlich genau in der Mitte des Buches bemerkt Kracauer, was der Leserin bis hierher nicht entgangen sein wird "Die Welten wechseln kaleidoskopartig, mit jedem Schritt eröffnet sich eine neue"
Ja genau, "Straßen in Berlin und anderswo" ist im wahrsten Sinne ein Raum-Zeit-Wort-Bild Kaleidoskop, und eine Reise in die Zeit von 1926 bis 1933, die durchzogen ist von einer seltsam berührenden Melancholie. Manche Texte muten wie beunruhigend unheilvolle, verstörende Träume, beinahe Märchen an, die jedoch eine düstere, unheimliche Wirklichkeit beschreiben. Eine Wirklichkeit, die sich kaum greifen, begreifen lässt, und für die Kracauer Bilder und Worte findet.
Kracauer nimmt uns an die Hand auf dieser Reise, nimmt uns mit in die kleinen, unscheinbare Seitenstraßen von Berlin, Paris, Marseille und weiter an entrückte, fast unwirkliche Orte wie die Felsenstätte Positano in Italien, eine Unterführung in Berlin-Charlottenburg oder das Mittelgebirge. Er zieht uns in den Bann seiner Eindrücke, lässt uns teilhaben an vielen übersehenen und vergessenen Blicken, wie den auf eine Lokomotive genau oberhalb der Friedrichstraße zum Beispiel, die von den Passanten unbemerkt innehält und dem Lokführer einen einsamen Blick "wie durch einen Spalt in die Straße hinein" gewährt. "Dem Mann ist zumute, als habe er eine Tarnkappe auf und die Straße der Straßen woge über ihn weg."
An den wenigen Stellen, in den Kracauer Farben benutzt, intensivieren diese den Augenblick, halten ihn wie eine Momentaufnahme fest und prägen ihn tief ins Gedächtnis ein, wie die braune Tracht einer Kellnerin in dem Speisesaal eines Warenhauses in einer Proletariergegend, in dem Heinrich Mann aus seinen Werken liest.
Beim Lesen des Textes über die Arbeitsnachweise, die sich heute Arbeitsagenturen nennen überfiel die Rezensentin die Erinnerung an die Begleitung eines Freundes zur Arbeitsagentur und hätte sie nicht gewusst, dass Kracauer diesen Text 1931 geschrieben hat, würde sie meinen, er beschreibe die Gegenwart.
Das vorliegende Werk hat bisher wenig Beachtung gefunden. Zu Unrecht. Es sind nicht die lauten Töne, mit denen Kracauer etwa vor dem nahenden Nationalsozialismus warnt, sondern die beinahe flüsternden, düsteren Beschreibungen der Wärmehallen und Arbeisnachweise, die durch die Beschreibung von Seifenblasen in einem Warenhaus viele Seiten später wieder in Erinnerung gerufen werden, wenn Kracauer ausführt "Die aus dem Seifenschaum hervorgegangenen sind die reinsten... weil sie in unvergleichlicher Weise ein Dasein vortäuschen, das wie sie hell und glücklich ist…Indem sie die Leute durch die Illusion einer besseren Welt sozusagen gefangen halten, ermöglichen sie das Fortbestehen der schlechteren." Nicht nur in diesem Text zeigt sich die hohe Brisanz und Aktualität des vorliegenden Werkes. Die Beschreibung der Wärmehallen und Tagesheime erinnert in erdrückender Weise an die alarmierenden Berichte über die Zustände in gegenwärtigen Alters- und Pflegeheimen.
AVIVA-Tipp Es sind die leisen, dunklen Töne Kracauers, die erschüttern und die die Zeit zwischen 1926 und 1933 unüberfühlbare Gegenwart werden lassen. Gerade in der Zeit der Krise ein hochaktuelles Buch. Oder wie es der Suhrkamp-Verlag im Klappentext ausdrückt "Die Zeit ist gekommen, "Straßen in Berlin und anderswo" neu zu lesen, frei von der Bevormundung durch Bilder und Konstruktionen, denen er sich verweigert hat." Dem kann die Rezensentin nur aus tiefstem Herzen zustimmen und dem Buch viele neue LeserInnen wünschen.
Zum Autor: Siegfried Kracauer, am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main als einziges Kind des aus Schlesien stammenden jüdischen Handelsreisenden Adolf Kracauer und dessen Frau, der Frankfurterin Rosette Oppenheim(er), geboren, wurde als Redakteur der "Frankfurter Zeitung" zu einem der wichtigsten Feuilletonisten der Weimarer Republik. Von großer Bedeutung für den Heranwachsenden war das gesellige Haus des Onkels Isidor Kracauer, der am Philanthropin Geschichte unterrichtete und zusammen mit seiner Frau Hedwig, geb. Oppenheim(er), die Julius und Amalie Flersheim´sche Stiftung leitete. 1933 emigrierte Siegfried Kracauer zunächst nach Frankreich und schließlich nach New York, wo er am 26. November 1966 starb. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die soziologische Studie "Die Angestellten", die Essaysammlung "Von Caligari bis Hitler" sowie die "Theorie des Films". Seine zweibändige Geschichte der Juden in Frankfurt am Main 1150-1824 (Frankfurt a.M. 1925-27) ist noch heute ein Standardwerk. (Quelle: Perlentaucher.de und Suhrkamp Verlag)
Siegfried Kracauer
Straßen in Berlin und anderswo
Bibliothek Suhrkamp 1449, erschienen: 12.10.2009
Pappband, 268 Seiten
ISBN: 978-3-518-22449-6
15,80 Euro