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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.05.2009


Kirsten von Hagen - Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film
Claire Horst

"ZigeunerInnen" werden mit unzähligen Stereotypen belegt, die sich seit Jahrhunderten kaum zu verändern scheinen. Die weise Wahrsagerin, die kinderstehlenden VagabundInnen, an gängigen...




... Klischees mangelt es nicht.

Dass derartige Stereotypen unter anderem von der Literatur vermittelt werden, ist eine Prämisse von Kirsten von Hagens Habilitationsschrift an der Universität Bonn aus dem Jahr 2006, die jetzt in Buchform vorliegt. Die Romanistin beschränkt ihre Untersuchung der Zigeunerfigur nicht auf Romane, sondern bezieht auch Oper und Film ein. Da das 19. Jahrhundert "in besonderer Weise von einem ambivalenten Umgang mit dem als exotisch empfundenen Anderen gekennzeichnet" gewesen sei, widmet sie sich Werken aus dieser Epoche. Der Zigeunerin kommt in der Studie als gleich zweifach diskriminierter Figur ein besonderer Status zu.

Von Hagen bezieht sich auf Ergebnisse der Alteritätsforschung, der zufolge die Konstruktion von Fremdheit zur Konstitution der eigenen Identität dient. Dies gilt auch für die Gruppe der "Zigeuner" (den Begriff verwendet von Hagens übrigens kommentarlos ohne Anführungszeichen). Obwohl sie die Forschung zur Funktion von Stereotypen anführt, steht diese nicht im Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Stattdessen interessiert sie sich dafür, welche Mechanismen bei der Konstruktion des Fremden wirken – jeweils auf verschiedene künstlerische Medien bezogen. Sie geht davon aus, dass die Zigeunerfigur immer "in einem bestimmten Ordnungsgefüge verortet" wird, auf das sie zugleich zurückwirkt – diese "performative Rahmung" untersucht die Studie.

Die Autorin möchte nicht nur analysieren, wie Identität und Differenz konstruiert werden – auch subversive Strategien, diese Zuschreibungen zu unterlaufen, nimmt sie in den Blick. Sie nennt etwa "Maskerade, Travestie, Spiel, Parodie oder Imitation". Im Blickpunkt soll also stehen, in welche Rahmungen Zigeunerfiguren eingeordnet werden und wie sie auf diese Rahmungen und den Gesamttext zurückwirken. Bei den untersuchten Texten handelt es sich um Werke von Jean Potocki, Victor Hugo, Antonio García Gutiérrez, Giuseppe Verdi, Prosper Mérimée, Georges Bizet, George Sand und Jules Verne.

Spannend wird die erfreulich lesbar geschriebene Untersuchung dann, wenn sie intermediale Verknüpfungen aufzeigt und den Wandel der Figurendarstellung in verschiedenen Bearbeitungen nachverfolgt. So vergleicht die Autorin etwa die Darstellung der vielleicht bekanntesten literarischen Zigeunerfigur, der Carmen, in Prosper Mérimées gleichnamiger Novelle, in Georges Bizets Oper und den zahlreichen filmischen Bearbeitungen. Anhand der Darstellung der "Zigeunerin" Carmen zeigt sie auf, dass wir es bei literarischen Darstellungen "immer mit einem Wirklichkeitskonstrukt zu tun haben, in dem sich Wahrgenommenes und Imaginäres verbinden" – schon in die Novelle fließen stereotype Vorstellungen über "ZigeunerInnen" ein. Die Rahmung, die von Hagen hier ausmacht, ist die Einordnung Carmens als Frau, die entweder Tod oder Eros symbolisiere. Bei Mérimée heißt es: "La femme, c´est du fiel. Mais elle a deux bonnes heures:l´une au lit, l´autre au mort."

Beispiele für die Subversion zugeschriebener Bedeutungen findet sie im Stummfilm, der sich "im Spannungsfeld von bloßer Re-Inszenierung und einer Subvertierung der Konstruktion des Fremden" bewege, etwa bei Charlie Chaplin, der in seiner "Burlesque on Carmen" die Konstruktion von Gender und Ethnie nachspielt und dadurch offen legt, und auch in der Verfilmung Godards. Ein weiteres Beispiel für die Re-Inszenierung von Fremdheit ist die südafrikanische Bearbeitung "U-Carmen e-Khayelitsha". Mark Dornford-Mays Film erlaubt ein Spiel mit Herrschaftsmustern und Aneignungsprozessen, indem die Geschichte in die südafrikanischen Townships verlegt wird.

AVIVA-Tipp: Von den unzähligen literaturwissenschaftlichen Beiträgen zur Alteritätsforschung hebt sich von Hagens Studie durch ihre Intermedialität ab. Sie konzentriert sich nicht auf die Analyse gängiger Stereotypen, sondern stellt deren Konstruktion in unterschiedlichen Kunstrichtungen dar. Anhand ihrer Untersuchung der "Rahmungen" durch filmische, musikalische und poetische Mittel zeigt von Hagen die Wechselwirkung zwischen Fremdinszenierungen der "Zigeunerfigur" und dem Aufbegehren dagegen auf. Da die Wirkungsweise künstlerischer Methoden im Zentrum ihres Interesses steht, kommt die Auseinandersetzung mit grundlegenden Begrifflichkeiten teilweise zu kurz: Wünschenswert wäre beispielsweise eine klare Abgrenzung des Begriffs "Zigeuner" gewesen.

Zu der Autorin/Herausgeberin: Kirsten von Hagen studierte Romanistik, Komparatistik, Anglistik und Germanistik in Bonn, Oxford und Reims. Studien- und Forschungsaufenthalte in Paris, Salamanca und Granada. Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs "Intermedialität" in Siegen. Ihre Dissertation ist 2002 unter dem Titel "Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos´ Les Liaisons dangereuses" im Stauffenburg Verlag erschienen. Vertretung der Juniorprofessur "Geschichte und Theorie der Bildmedien" an der Bauhausuniversität in Weimar. Einjähriger Forschungsaufenthalt (Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung) an der Sorbonne (Paris IV) in Paris. Derzeit DFG-gefördertes Forschungsprojekt an der Universität Bonn. Das vorliegende Buch ist ihre Habilitationsschrift im Rahmen eines Lise-Meitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn.
Die Autorin im Netz: kirsten.vonhagen.de

Kirsten von Hagen
Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film.

238 S. s/w Abbildungen, Taschenbuch, kart.
29,90 Euro
Wilhelm Fink Verlag, erschienen Mai 2009
ISBN: 978-3-7705-4714-2


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Beitrag vom 16.05.2009

Claire Horst