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Beitrag vom 29.04.2009
Sara Shilo - Zwerge kommen hier keine
Claire Horst
"Könnt ich bloß zwanzig Stücke aus mir machen. Jedes Stück würd ich in eine andre Ecke der Stadt tun, dass wenigstens eins sich eine Katjuscha fängt, dann wär ich endlich hin." Simona, die ihren...
... Mann Mass´ud vor sechs Jahren verloren hat, sitzt bei Raketenalarm auf dem Fußballfeld und hofft, endlich von einer Katjuscha getroffen zu werden.
"Zwerge kommen hier keine" führte monatelang die israelischen Bestsellerlisten an. In dem Roman der irakisch-syrischstämmigen Sara Shilo kommen Simona und ihre Kinder abwechselnd zu Wort. Auf ihre Weise erzählen sie alle vom Leben ohne den Ehemann und Vater, von einem Leben in Armut und ohne große Hoffnung auf Verbesserung.
Die Erzähltechnik erinnert an große Werke der Weltliteratur wie Faulkners "The Sound and the Fury", wenn Simona ihrem Stream-of-conciousness nachhängt und die LeserInnen ihrem inneren Monolog folgen. Simona, die sechs Kinder hat, weiß vor Kummer nicht, wie sie das Leben bewältigen soll. Der körperbehinderte Itzig schläft mit einem Falkenweibchen in der Küche, das er auf "die Terroristen" abrichtet, und stiftet seinen Bruder zu Diebstählen an. Ihren Ältesten, Kobi, hat Simona zu sich ins Ehebett genommen – die kleinsten Geschwister, sechsjährige Zwillinge, sollen glauben, sie hätten einen Vater. Die NachbarInnen schneiden Simona, seit sie Witwe ist.
Während sie auf den Einschlag der Katjuschas wartet, denkt Simona an ihr Leben mit Mass´ud zurück. Auf dem Flüchtlingsschiff von Marokko nach Israel hatten sie sich kennen gelernt, beide noch kaum erwachsen, und sich verliebt, ohne ein Wort zu wechseln. Glücklich war Simona mit ihm nicht immer – auch wenn ihr das Leben vor seinem Tod jetzt wie das reinste Paradies erscheint. Heute arbeitet sie in einem Kindergarten, der unter dem Regiment der Holocaust-Überlebenden Dvora steht. Vor der verbitterten Dvora haben alle Angst, und sagen kann man nichts gegen sie – nach dem, was sie erlebt hat. Wie ihre Kolleginnen spricht Simona ein fehlerhaftes Hebräisch, für das sie von Dvora ständig zurechtgewiesen werden: "Es heißt dessen Ball, nicht dem sein Ball, Silvi, deren Ball und nicht der ihr Ball. Und ich will in meinem Hort auch kein Wort Marokkanisch mehr hören. Das kannst du auch Levana ausrichten. Das Marokkanisch kann sie sich für ihren Mann aufheben, für die Nacht."
Aber auch das Eheleben bedeutete für Simona eine Demütigung nach der anderen. Die Mutterschaft empfand sie als völliges Ausgeliefertsein, ihr Körper wurde zum reinen Gefäß für die Kinder, die sie austragen sollte. "Du quälst dich dafür, reiherst, schleppst es mit dir rum, siehst, wie sich deine Adern aus den Beinen rausdrücken wegen ihm. [...] Was lernt dich das? Nur eins: Dass du bloß auf die Welt gekommen bist, um Leute aus dir heraus auf diese Welt zu setzen. Und die werden hier noch leben, wenn du schon lang gegangen bist. Dass du auf die Welt gekommen bist, zu leiden und zum Klappehalten. So wirst du Mutter. Du lernst den Mund fest zumachen und deine ganzen Schmerzen in dir drinhalten und nicht schreien."
Wenn später Simonas Kinder zu Wort kommen, ist die Perspektive eine ganz andere. Kobi träumt vom Aufstieg und legt heimlich Geld für eine Musterwohnung zurück, in die er mit der Mutter und jüngeren Geschwistern ziehen will. Auch er kämpft mit dem Verlust des Vaters und der Verachtung seiner Kollegen in der Fabrik. Dass er als Junge schon in die Rolle des Vaters treten musste, macht ihm zu schaffen: "Keine Ahnung warum, aber grad wenn ich sie fröhlich seh, muss ich weinen. Nicht bloß bei meinen Kindern. Immer wenn ich kleine Kinder fröhlich seh, könnt ich weinen." Shilo greift Themen wie die beinahe ödipale Beziehung zwischen Mutter und Sohn sensibel auf.
Etti, die einzige Schwester, spricht eine ganz andere Sprache. Sie durchschaut das ganze Drama der Lebenslüge, mit der die Familie lebt. Sie leidet unter dem Gerede der MitschülerInnen und fühlt sich für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich. Etti ist auch die Einzige, der wirklich klar ist, was es mit dem Tod des Vaters auf sich hat. Das Besondere an Shilos Roman ist die Macht ihrer Sprache. Selbst in der Übersetzung wird noch deutlich, wie sehr sich die einzelnen Figuren voneinander unterscheiden. Ihre Ausdrucksweise und Wortwahl sprechen für sich. Etti, die Radiosprecherin werden möchte, verfügt über einen großen Wortschatz und hat einen weiteren Horizont als ihre Geschwister.
AVIVA-Tipp: Sara Shilo gibt den Machtlosen eine Stimme und scheut sich dabei nicht, auch tabuisierte Themen aufzugreifen. Der latente Rassismus, die Auswirkungen des Holocaust, das Leben in ständiger Angst vor den Raketen, andererseits auch die Perspektive der arabischen Nachbarn im Dorf, die auch von den Raketen bedroht sind, sind nur einige der Elemente ihres Buches. Das eigentliche Thema ihres Romans ist jedoch ein universell gültiges: das Bedürfnis nach einem menschenwürdigen Leben, nach Liebe und Anerkennung.
Zu der Autorin/Herausgeberin: Sara Shilo wurde in Jerusalem geboren. 1976 zog sie mit ihrem Mann in eine israelische Siedlung in Ma´alot. Sie leitete das dortige Zentrum der Künste, schrieb Kinderbücher und gründete ein Puppentheater, das berühmt wurde. "Zwerge kommen hier keine", ihr erster Roman für Erwachsene, gewann den "Ministry of Culture Prize for a Debut Novel", den "Wiener Prize for a Debut Novel" sowie den Sapir Prize, Israels höchste literarische Auszeichnung. Shilo lebt mit ihrer Familie in Galiläa.
Sara Shilo
Zwerge kommen hier keine
dtv premium
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
300 Seiten
ISBN 978-3-423-24716-0
Euro 14,90