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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.03.2009


Das Glück hat mich umarmt
Ewa Maria Slaska

Die Deutschen und die Polen wurden auf ihre Plätze verwiesen, indem es ihnen ihre Täter- und Mittäterschaft vor Augen geführt wurde. Vergleichbares wird man derzeit schwer in der Belletristik finden




Ich will das nicht wissen!

Nejusch, der Name, unter dem die jüdische Autorin Nea Weissberg-Bob ihr Buch veröffentlicht hat, bekam sie von ihrer Großmutter, den Titel des Buches - Das Glück hat mich umarmt - von ihrem Vater. Es ist sein Erklärungsversuch, wie er 1941 als polnischer Jude das Pogrom in Lemberg (Lwów) überlebt hat. Und obwohl es nicht das Hauptthema des Buches ist, ist die Beschreibung des Pogroms die Schlüsselszene des Romans schlechthin.

Der Roman basiert auf den authentischen Briefen, die die Autorin an einen nichtjüdischen, deutschen Brieffreund schrieb. Nicht nur die Briefe sind authentisch, authentisch ist auch der jahrzehntelange Versuch der Autorin, sich an die Geschichte ihrer Familie und damit auch an die Geschichtsschreibung anzunähern. Die Leserin nimmt unmittelbar an dem Prozess teil, ist gleich mitten drin. Die Autorin nähert sich dem Thema sehr vorsichtig an, wie eine getigerte Katze schleicht sie sich langsam heran, zielgerichtet. Nach dem Wegschauen und doch heimlichen Zuhören, kommt die Phase der Fragen. Aber die Antworten kommen nur zaghaft. Man schweigt lieber als man redet.

Das Hauptthema des Buches Das Glück hat mich umarmt ist das Durchbrechen des tradierten Schweigens. Es ist vielleicht das Hauptthema des vergangenen Jahrhunderts: Das allmächtige Schweigen in den Familien, die den Krieg er- und überlebt haben. Das Verschweigen der TäterInnen und TäterInnenkinder, das Schweigen der Opfer und deren Kinder hat das europäische Leben des 20. Jahrhunderts geprägt. Der Krieg dauerte knapp sechs Jahre, das Schweigen sieben Dekaden. Es schwiegen Soldaten und Mörder, aber es schwiegen auch Opfer. Vielleicht vor allem die Opfer. Weshalb schweigen die Opfer? Aus Scham? Aus Angst? Nejusch versucht es zu verstehen, genauso, wie ich immer versucht habe, zu verstehen, weshalb meine Mutter, die als Jüdin den Krieg in Warschau erlebt hatte, so zäh darüber schwieg, dass wir sogar nicht wussten, dass sie eine Jüdin ist. Man hat unzählige Forschungsprojekte durchgeführt und Bücher darüber geschrieben, aber eine endgültige Antwort, wie dieses Schweigen zu bezwingen wäre, gibt es nicht. Das Buch von Nejusch ist ein gutes Beispiel dafür.

Ein deutscher Journalist, wäre er redlich, hätte nach der Lektüre von Nejuschs Buch geschrieben, dass die Autorin "mit uns" abgerechnet hat. Ich habe auch diese Formulierung benutzt, ich bin aber eine Fremde, eine polnisch-jüdische Schriftstellerin, daher musste ich hier zuerst schreiben: Nejusch rechnet mit den Deutschen ab. Aber auch meine Leute bleiben bei der Lektüre nicht verschont. Nejuschs Zorn richtet sich nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen die Polen, weil sie mitmachten, und zwar willig mitmachten. Sie verweist die Deutschen und die Polen auf ihre Plätze, indem sie ihnen ihre damalige TäterInnen- und MittäterInnenschaft vor Augen führt und entlässt sie somit nicht aus ihrer historischen Verantwortung. Es ist ein Prozess, der den Deutschen und den Polen gemacht wurde. Vergleichbares wird man derzeit schwer in der Belletristik finden!
Das Buch ist jetzt ins Englische und ins Polnische übersetzt. Es passt schon, es auch in Polen zu verlegen. Vor zehn Jahren hätte so ein Buch in Polen einen Schock ausgelöst, so wie es 2000 das Buch S¹siedzi (Nachbarn) von Jan T. Gross über das Pogrom in Jedwabno ausgelöst hat. Jetzt haben die Polen zehn Jahre lang an ihren Hausaufgaben zum Thema Verantwortung fleißig gearbeitet. Vielleicht werden sie das Buch von Nejusch nicht lieben, aber lesen werden sie es. Und heftig aufgeregt hin und her diskutieren.
Die Zeit ist gekommen. Und es ist gut, dass sie endlich gekommen ist.


Zur Autorin: Nea Weissberg-Bob, Anfang der 50er Jahre geboren, lebt in Berlin. Seit 1990 veröffentlicht sie Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Weitere Infos und Kontakt unter: www.lichtig-verlag.de

Nea Weissberg-Bob
Nejusch: Das Glück hat mich umarmt

Ein Briefroman mit Beiträgen von Halina Birenbaum, Hella Goldfein, und Jürgen Müller- Hohagen.
Lichtig Verlag Berlin, erschienen 2008
ISBN 3-929905-21-3
170 Seiten
Euro 21.50
Vertrieb über die Literaturhandlung Rachel Salamander, Berlin - München.

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Lesen Sie auch die Rezension von Gesine Strempel zu "Nejusch: Das Glück hat mich umarmt"


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Beitrag vom 14.03.2009

AVIVA-Redaktion