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Beitrag vom 28.02.2009
Mithu M. Sanyal - Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts
Kendra Eckhorst
"Da unten" oder "zwischen den Beinen" liegt noch immer hoch im Kurs, um dem weiblichen Genital einen Namen zu geben. Kürzer, präziser und klangschöner ist doch dieses Wort: Vulva.
Ein kleiner Test beweist es. Mithu M. Sanyal fordert Wissenschaftlerinnen auf, Penisse und Vulvas zu zeichnen. Bei den Penissen gibt es keine Probleme, wohingegen die weiblichen Genitale nicht wieder zu erkennen sind. Diese Ergebnisse scheinen unglaubwürdig, werden aber nachvollziehbar mit der ersten, abendländischen Kulturgeschichte über die Vulva von Mithu M. Sanyal.
Nicht nur die Bilder fehlen, auch die Bezeichnungen für das weibliche Genital sind oft ungenau. So stellt Sanyal fest, dass Vulva und Vagina synonym gebraucht werden, aber tatsächlich unterschiedliche, innere und äußere Körperteile benennen. Die Vulva, also Schamlippen und Klitoris, verschwindet aus dem Wortschatz und übrig bleibt nur ein "Loch", eine "Leere" oder die Vorstellung von verkümmerten Resten des männlichen Genitals. Reste, die es in sich haben, wie Sanyal in ihrer Materialsammlung herausfindet.
"Als Erstes sprang mir der eklatante Widerspruch ins Auge, dass das weibliche Geschlecht einerseits gar nicht da sein oder doch zumindest unbedeutend und unsichtbar sein soll, während es gleichzeitig als schwarzes Loch und klaffender Abgrund erscheint, als Tor zur Hölle, Quelle alles Zwists und Ärgers auf der Welt und möglicher Untergang des Mannes," so Sanyal.
Um das "unsichtbare" Geschlecht zu enthüllen, sammelt sie Darstellungen der Vulva in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst und unternimmt einen Streifzug von den Anfängen des Christentums bis hin zu Performancekünstlerinnen wie Annie Sprinkle oder Joanna Frueh.
Und findet auch, nach langem Suchen, vergessene Quellen in alten Mythologien und Religionen, in denen das weibliche Geschlecht angebetet und verehrt wurde. Magische und heilende Kräfte wurden der Vulva zugeschrieben. Ein hochgezogener Rock, der die Vulva zeigte, konnte den Teufel besiegen und Menschen retten. Auf Grund dieser Kräfte schmückten weibliche Figuren mit übergroßen Geschlechtsmerkmalen Tempel und heilige Orte und wurden im Siegeszug der monotheistischen und patriarchalen Weltanschauungen als Bedrohung wahrgenommen. Sie mussten weichen, wurden umgedeutet und entmachtet.
Sanyal zeigt in ihrer Geschichtsschreibung die gewaltigen Anstrengungen, das weibliche Genital zu diffamieren, gar zu leugnen und Frauen als defizitäre Menschen darzustellen. Ein Bild, das auch von aktuelleren Theoretikern wie Freud, Lacan und Baudrillard unterstützt wird. Im gleichen Atemzug aber, in dem ein fehlender Phallus als ein Mangel diagnostiziert wird, schimmert die Vorstellung einer geheimen Macht der Vulva durch. Wenn auch als negatives und gewalttätiges Bild.
So geistert die "Vagina Dentata", die zubeißt und nichts übrig lässt, immer noch durch die Männerphantasien und muss abgewehrt werden.
Eine Geschichte der Aneignung entdeckt Sanyal, als sie sich auf die Suche nach Stripperinnen, Teaserinnen und Performancekünstlerinnen begibt, die ihr Geschlecht einsetzen, es zeigen und benennen. Weder als Mangel noch als Nichts, sondern, wie es die Performancekünstlerin Joanna Frueh beschreibt, "als eine Verbindung, in der der Blick des anderen wesentlich und dabei eben nicht entfremdend ist."
Die Enthüllungsgeschichte der Vulva erzählt eine Kulturgeschichte der Abwehr, Umdeutung und Aneignung, die keinen weiblichen Körper festschreiben will, sondern den Bildern von und dem Sprechen über die Vulva nachspürt, sie sammelt und kommentiert.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Charlotte Roche – "Feuchtgebiete".
Zur Autorin: Dr. Mithu M. Sanyal, geboren 1971, ist indisch-polnischer Abstammung und wuchs im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk auf. Sie ist Mutter eines kleinen Sohnes und einer großen Tochter, promovierte in Kulturwissenschaften und arbeitet als Journalistin und Autorin, hauptsächlich für den WDR. Für ihre Radio-Features zur Kulturgeschichte des Alphabets erhielt sie bereits dreimal den Dietrich Oppenberg-Medienpreis der Stiftung Lesen.
(Quelle: Verlagsinformation)
AVIVA-Tipp: Spannend, detailgenau und leicht geschrieben, aufgelockert durch Abbildungen, lädt Sanyal zu einer Entdeckungsreise vom Sofa aus ein. Durch verschiedene Epochen und Kontinente bietet die abendländische Kulturgeschichte "Vulva – Die Enthüllung eines unsichtbaren Geschlechts" eine Materialfülle an, die sich in Anekdoten und Geschichten an einander reiht und noch einmal den Blick auf das weibliche Genital verrückt.
Mithu M. Sanyal
Vulva – Die Enthüllung eines unsichtbaren Geschlechts
Wagenbach Verlag, erschienen Februar 2009
Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten mit vielen Abbildungen
ISBN 978 3 8031 3629 9
19,90 Euro