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Beitrag vom 16.12.2008
Aharon Appelfeld - Blumen der Finsternis
Margret Müller
Hugos Mutter versteckt ihren Sohn bei einer Dorfprostituierten vor den Nazis. In einer Kammer, allein mit seinen Erinnerungen und Beobachtungen, muss der Junge schlagartig erwachsen werden.
Hugos Mutter weiß keinen anderen Ausweg mehr. Um ihren elfjährigen Sohn vor der sicheren Deportation aus dem Ghetto in ein Konzentrationslager zu retten, flieht sie mit ihm durch die Kanalisation und bringt ihn zu ihrer Jugendfreundin, der Prostituierten Mariana. Im Holzverschlag, hinter dem an einen Friseursalon erinnernden rosa Plüschzimmer versteckt, endet Hugos bis dahin behütete Kindheit abrupt.
Mariana, die meist nur unter starkem Alkoholeinfluss die Demütigungen der deutschen Soldaten über sich ergehen lassen kann, bietet ihm zwar das perfekte Versteck, vergisst ihren Schützling Hugo aber all zu oft, der dann für viele Stunden darbend und schweigend in der Kammer ihrem Erscheinen und etwas Milch oder einer Scheibe Brot harrt. Hugo kann, obwohl mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe gesegnet, wohl als Einziger das Offensichtliche nicht einordnen. Er hört, was in Marianas Zimmer vorgeht, erkennt jedoch erst lange nach den LeserInnen, welchen Beruf Mariana ausübt und was die eigenartigen, ihm Furcht einflößenden Geräusche und Stimmen aus Marianas Zimmer bedeuten. Seine Welt füllt sich mit Tagträumen, in denen ihm Eltern und Spielkameraden erscheinen, deren Anwesenheit ihm Trost spendet, die sich aber auch mit der Zeit zu verändern scheinen. Während der bei einem Bauern versteckte Freund ihn vor lauter Feldarbeit nicht mehr zu erkennen scheint, ist dem Vater die harte Arbeit im Lager deutlich anzusehen.
Mit der Zeit verblassen die kostbaren Erinnerungen an die Vertrauten und Geliebten, während der Alltag mit Mariana immer mehr Raum in Hugos Leben einnimmt. Zwar versucht Hugo angestrengt, die Begegnungen in Gedanken - das einzig von der Kindheit Gebliebene - zu halten, doch sie entwickeln ein Eigenleben, entgleiten und erscheinen nur noch sporadisch.
Mariana, die einzige Vertraute, wird zunehmend Mittelpunkt seines Denkens, die ihn aus der Kälte, Einsamkeit und Verzweiflung des Verstecks immer wieder in ihr warmes Bett holt. Beide verbindet die Abhängigkeit zweier Ertrinkenden in einer rosafarbenen Kapsel der Wärme, umgeben vom schwarzen feindseligen Meer des Mordens und Misstrauens. Ihre Liebe wächst wie eine kleine, Hoffnung spendende Blume trotz all der Finsternis, wird zum Strohhalm, der Geborgenheit heuchelt und doch nichts halten kann. Sich von einer eher mütterlich unschuldigen zu einer erotischen Liebesbeziehung wandelnd, mag das Verhältnis aufgrund des Altersunterschieds zunächst unpassend und fremd anmuten, verdeutlicht aber gerade dadurch intensiv die Tragweite der so früh verlorenen Kindheit.
Der Autor Aharon Appelfeld, in Czernowitz geboren, musste als Achtjähriger die Erschießung seiner Mutter durch rumänische Antisemiten miterleben, wurde mit seinem Vater nach Transnistrien deportiert und konnte später aus dem Lager fliehen. Auf der jahrelangen Flucht vor den Nazis, an deren Ende er sich als Küchenjunge der sowjetischen Truppen durchschlug, versteckte er sich bei einer Dorfhure, was wohl den Ausgangspunkt der Romanhandlung markiert, die sich wie so charakteristisch für den Autor mit dem subjektiven Erleben eines Kindes im Holocaust beschäftigt, dessen bis dato wohlbehütete Kindheit jäh von den Nazis beendet wurde. Immer wieder sind ProtagonistInnen in Appelfelds Werken Kinder, denen die Position der BeobachterInnen zufällt, die zu früh erwachsen werden müssen und deren Phantasien aus der verlorenen Kindheit zu ihrem Kostbarsten und so leicht in ihren Händen zerrinnenden Gut werden.
Appelfeld selber sucht mit seinen zahlreichen Werken immer neu die Erinnerung an die Verlorenen, das in ihm Verborgene, die vergessenen Gedanken, Gerüche, Gefühle. So ist auch "Blumen der Finsternis" keine soziale, politische Annäherung an den Holocaust, sondern eine Literarische, an Emotionen und Bilder knüpfende, aus dem Horizont eines Kindes Entstandene, das eben nicht alles Geschehene in den historischen Rahmen einzuordnen weiß.
Mit den verblassenden Erinnerungen Hugos an seine Eltern vollzieht sich ein gedämpfter Abschied der Eltern, welcher aber nicht in Worten vollzogen wird, so wie der Großteil des eigentlichen Geschehens nicht in geschriebener Form auffindbar, sondern zwischen den Zeilen zu suchen ist. Appelfeld ist selbst als Autor von der Sprachlosigkeit eines Überlebenden der Shoah betroffen, die sich in jeder Zeile seiner berührend- sensiblen Werke findet. In lakonisch-schlichtem Schreibstil ist das Schweigen der lauteste Ton, in dem sich die ganze Dimension des Leides findet.
Aharon Appelfeld wurde 1932 bei Czernowitz geboren. Im Jahr 1946 konnte er nach Palästina emigrieren und dort später an der Hebräischen Universität Jerusalem studieren. Von 1975 bis 2001 war er Professor für Hebräische Literatur an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva. Bereits in seinen ersten, in den 1950er Jahren veröffentlichten Erzählungen, beschäftigte sich Aharon Appelfeld vor allem mit seiner verlorenen Kindheit, wenn auch erst später autobiographisch. Der Fokus seines Gesamtwerkes liegt zudem auf dem Schicksal jüdischer Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft. Für "Der eiserne Pfad" erhielt er 1999 den "National Jewish Book Award". Im Jahr 2005 wurde er mit dem "Nelly Sachs Preis" der Stadt Dortmund ausgezeichnet.
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Geschichte meines Lebens von Aharon Appelfeld.
AVIVA-Tipp: Mit "Blumen der Finsternis" ist Appelfeld wieder einmal ein literarisches Meisterwerk gelungen, das sich nicht mal eben gemütlich bei Kerzenschein und Wintertee lesen lässt. Ein Diagonallesen mag vielleicht noch unberührt überstanden werden, beim wirklichen Hineinbegeben in das Buch übt Appelfeld aber eine nicht ungefährliche Sog-Wirkung aus, die durchaus lähmend sein kann. Eher unvorbereitet wird die Leserin in die Grausamkeit der Geschichte geworfen, genauer gesagt mit dem ersten Absatz, in dem sich bereits die drückende Schwere der folgenden Handlung ausbreitet. Eine nicht einfache, aber notwendige literarische Annäherung an das Unfassbare.
Aharon Appelfeld
Blumen der Finsternis
Originaltitel: Pirchej ha-afela
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Rowohlt Verlag Berlin, erschienen im Oktober 2008
Gebundene Ausgabe, 316 Seiten
19,90 Euro
ISBN-13: 978-3871345852