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Beitrag vom 03.10.2008
Huberta von Voss - Arme Kinder, reiches Land
Stefanie König
Was heißt es für ein Kind inmitten von Wohlstand arm zu sein?
Huberta von Voss beschäftigt sich mit den Einzelschicksalen hinter der Statistik,
und schafft dabei eindrucksvolle Portraits.
"Es ist ein Irrglaube zu denken, dass dort wo Kinder sind, auch Kindheit ist". (Huberta von Voss).
Ein Deutschlandbild als Momentaufnahme aus Kinderaugen – das wollte die Autorin erreichen als sie sich auf ihren Streifzug quer durch die Sozialviertel des Landes machte. Einen Armutsbericht von den wirklich Betroffenen erhalten, und nicht von anonymen Studien aus dem Internet, das war ihr Ziel.
Was ihr begegnete waren drogensüchtige Jugendliche, Kinder von alkoholkranken Eltern, missbrauchte und vernachlässigte Babys, übergewichtige und kranke Kinder, Hunger und Hartz IV.
Huberta von Voss besuchte diese Kinder und deren Familien, versuchte den Dialog zu finden und hinter das Offensichtliche zu blicken. In "Arme Kinder, reiches Land" lässt sie Kinder, Eltern und ErzieherInnen zu Wort kommen, und gibt den Problemfeldern des sozialen Abstiegs ein Gesicht.
Das Buch erzählt von Katrina, die mit vierzehn ein Kind bekam, und nun in einer betreuten Wohngruppe am Berliner Ostrand wohnt. Von David, der in einem Kinderheim betreut wird und an FASD, dem fetalen Alkoholsyndrom leidet, weil seine Mutter in der Schwangerschaft bereits Alkoholikerin war.
Von Kim, die mit neun Jahren von zu Hause weglief, seitdem auf der Straße lebt und heute, mit gerade mal 16, ihren vierten Selbstmordversuch hinter sich hat.
Vom 14 jährigen Jakob, der in einem Intensivtäterprogramm versucht, sein kriminelles Verhalten in den Griff zu bekommen, oder von der kleinen Ruth, für die das Kinderhilfswerk Arche ihren Geburtstag feiert, weil zu Hause niemand daran denken würde.
Alle diese Kinder - so unterschiedlich sie auch sein mögen - haben eines gemeinsam: sie kommen aus armen, sozial extrem benachteiligten Familien, aus dem abgehängten Prekariat, wie es im Fachjargon heißt.
"Zu 90 Prozent sind Misshandlung und Vernachlässigung ein Problem armer Familien" schätzt der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers.
Und dass Kinderarmut, Leid und Hunger in Deutschland längst kein Einzelphänomen mehr sind, und ganze Schichten ins soziale Abseits gedrängt werden, zeigt Huberta von Voss in ihrem Buch auf.
"Bereits 1995 lebte jedes dritte Kind im Vorschulalter am Rande der Einkommensarmut". Laut Definition der EU-Kommission also in Haushalten, die über weniger als die Hälfte des nationalen Durchschnittseinkommens verfügen.
Die Tendenz ist steigend: immer mehr Kinder sind von Armut bedroht, dadurch auch von Krankheit, schulischem Misserfolg und einem Abgleiten in Gewalt und Kleinkriminalität. Am stärksten betroffen sind die Kinder von MigrantInnen und Alleinerziehenden. Oft sind soziale Einrichtungen und ehrenamtliches Engagement die einzigen Auffangstationen vom Leben gebeutelter Kinder. Hier bekommen sie die einzige Mahlzeit am Tag, haben soziale Kontakte und finden Gehör.
Denn das ist laut Huberta von Voss wichtiger als alles andere. Jemand der die Kinder und ihre Probleme ernst nimmt, ihnen zuhört und für sie da ist, wenn die eigene Familie versagt.
"Was haben Sie denn mit dem gemacht?", wurde sie von dem Betreuer nach einem Interview mit einem Insassen in der Jugendanstalt Hameln gefragt. "So gelöst habe ich den noch nie erlebt."
Ihre Antwort lautete: "Zugehört."
Weiterlesen:
Armutsbericht der Bundesregierung:
www.bmas.de
3. Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung - ein Beitrag auf AVIVA-Berlin.
Zur Autorin: Huberta von Voss, Jahrgang 1967, hat als Journalistin gearbeitet, bevor sie als Sprecherin zu Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth wechselte.
Von 1997 bis 2002 begleitete sie ihren Mann Dr. Peter Wittig, einen deutschen Diplomaten, an die Botschaften von Beirut und Nicosia. Im Ausland entstand auch nach intensiven Reisen das Buch "Porträt einer Hoffnung: Die Armenier. Lebensbilder aus aller Welt ". Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Berlin.
(Quelle: Rowohlt Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp Kinderarmut in Deutschland – hier widmet sich Huberta von Voss mit Leidenschaft einem noch weitgehend tabuisierten, gerne unter den Tisch gekehrten Thema.
Ihr gelingt der Spagat zwischen individuellem Schicksalsportrait und dem Vermitteln wissenschaftlicher Hintergrundinformation über die Hartz IV-Problematik, den europaweiten Bildungs- und Armutsvergleich oder das drastische Ansteigen der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen.
Problematisch allein wirkt die Tatsache, dass "Arm" oft in einem Satz steht mit kriminell, gewalttätig und ungebildet. Das hierbei vermittelte Bild bedient ein wenig zu unkritisch alle gängigen Klischees sozial benachteiligter Milieus.
Huberta von Voss
Arme Kinder, reiches Land
Ein Bericht aus Deutschland
Rowohlt Verlag, erschienen 06. Oktober 2008
Taschenbuch, gebunden, 224 Seiten
ISBN-13: 978-3498070649
14, 90 Euro