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Beitrag vom 02.10.2015
Astrid Lindgren - Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945
Bärbel Gerdes
Die Kriegstagebücher der schwedischen Kinder- und Jugendschriftstellerin geben Auskunft darüber, was sie zur Ablehnung jeglicher Gewalt und jeglichen Krieges brachte. Wir kennen sie als Erfinderin..
... so berühmter Figuren wie Pippi Langstrumpf, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und viele mehr.
Jahrelang wurde sie als Anwärterin für den Nobelpreis für Literatur gehandelt – doch die Jury blieb hart: Kinderliteratur sei nicht ernst zu nehmen! Einige unter uns mögen sich auch an das Jahr 1978 erinnern, in dem Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. In der Begründung hieß es, sie würde "mit ihren Büchern Kindern in aller Welt als unverlierbaren Schatz die Phantasie schenken und ihr Vertrauen zum Leben bestärken. Neugier im Kind zu wecken, es kritisch zu machen gegenüber großen Worten und Parolen, ist genauso wichtig wie die Aufgabe, ihnen die Angst zu nehmen vor der Welt und der Zukunft." Und in ihrer Dankesrede wies sie darauf hin: "Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben – das ist erschreckend, aber es ist wahr."
In dem vom Ullstein Verlag herausgegebenen Band mit Tagebuchaufzeichnungen haben wir nun die wunderbare Chance mitzuerleben, wie Astrid Lindgren zu dieser Haltung kam. Als sie am 1. September 1939 mit dem Tagebuch begann, war sie noch keine Schriftstellerin. Die 1907 Geborene lebte mit ihren beiden Kindern Lars, den sie 1926 unehelich zur Welt gebracht hatte, ihrer Tochter Karin und ihrem Mann Sture in Stockholm und hatte, abgesehen von einigen Kurzgeschichten in Zeitschriften, noch nichts veröffentlicht.
Mit dem ersten Tag des Zweiten Weltkrieges verfolgte Lindgren engagiert und akribisch, was sich in der Welt außerhalb Schwedens tat. Während ringsum nach und nach die Welt in Flammen aufging, blieb Schweden vom Krieg verschont. Lange hieß es, es sei neutral gewesen, in Wirklichkeit jedoch "versorgte Schweden das faschistische Regime großzügig mit Krediten und Eisenerz", wie es in dem kenntnisreichen und äußerst spannenden Vorwort von Antje Rávic Strubel heißt.
Astrid Lindgren verfolgt das Geschehen mittels Zeitungen und Rundfunk und kann ihr Wissen vertiefen, als sie im September 1940 ihre "geheime ´Bereitschaftsarbeit´" beginnt. Sie arbeitet abends in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes und erfährt über diese Briefe vieles über die Schrecken in den Nachbarländern.
Die Tagebuchaufzeichnungen wirken sehr unmittelbar und verstören durch die faktische Widersprüchlichkeit. Während in ganz Europa der Krieg wütet und die jüdische Bevölkerung ausgemerzt wird, ist es in Schweden durchaus noch möglich, Weihnachten zu feiern oder in die Sommerfrische zu fahren. Durch ihre Informationen über den "Roten Terror" ängstigt sie das Vorrücken der sowjetischen Armee so sehr, dass sie sich zeitweise lieber auf die deutsche Seite schlagen möchte. Erst allmählich wird ihr bewusst, dass nicht nur Hitler und seine Regierung für die Tötungsmaschinerie verantwortlich sind, sondern dass sie von der Bevölkerung getragen wird.
In einem aber bleibt Lindgren klar: sie verurteilt den Krieg und verliert ihr Mitleid und Mitfühlen nicht für die Soldaten und die Bevölkerung, egal welchen Landes. Bewusst ist ihr auch, dass sie persönlich vom Krieg profitiert: "Aber Familie Lindgren geht es gut! ... Wir leben in unserer warmen, gemütlichen Wohnung ... Dank des Krieges habe ich einen Monatslohn von 385 Kronen... Sture ist (dank des Krieges) schon praktisch Direktor."
Ihr Tagebuch reichert Astrid Lindgren mit Zeitungsartikeln an, die sie ausschneidet und einklebt.
Der Ullstein Verlag hat mit der Gestaltung des Buches etwas Großartiges geschaffen: ein wunderbarer Einband, Faksimile der Tagebuchseiten, auf denen Artikel eingeklebt sind und deren Übersetzung sowie ein qualitativ hochwertiges Papier, wie es durchaus nicht üblich ist.
Im Verlauf des Krieges wächst Lindgrens Entsetzen über die Gräuel, von denen sie erfährt. Ihr Tagebuch wird zu einer Reportage, einer überaus spannenden Berichterstattung aus einem Land, das wie eine Insel verschont bleibt vom Bombenhagel. Es ist genau diese Außenperspektive, die das Buch so lesenswert macht.
Über ihr persönliches Leben erfahren wir nur nebenbei etwas, etwa, wenn von Festen die Rede ist, von den Auswirkungen der Lebensmittelrationierungen. Am privatesten zeigt sich Lindgren in einer persönlichen Krise 1944, als ihr Ehemann sich in eine andere Frau verliebt. Ihre Eintragungen werden seltener, "der Boden unter mir ist bis auf die Grundfesten erschüttert worden, ich bin verzweifelt, deprimiert, enttäuscht, häufig traurig."
Ganz nebenbei erfahren wir auch von der Geburt Pippi Langstrumpfs. Als ihre Tochter Karin im März 1944 mit Masern danieder liegt und Astrid Lindgren sich den Fuß verstaucht und krank geschrieben ist, notiert sie "Ich amüsiere mich gegenwärtig mächtig mit Pippi Langstrumpf". Zum zehnten Geburtstag im Mai schenkt sie ihrer Tochter das Manuskript von Pippi Langstrumpf in einem schönen schwarzen Ordner.
AVIVA-Tipp: Die Kriegstagebücher von Astrid Lindgren sind eine beeindruckende und überaus lohnende Lektüre. Die wunderbare Aufmachung des Buches hat sicherlich eine Nominierung unter den Schönsten Büchern des Jahres 2015 verdient.
Zur Autorin: Astrid Lindgren wurde 1907 auf dem Hof Näs in der Nähe von Vimmerby, Småland, geboren. Ausbildung als Sekretärin. Von 1946 bis zu ihrer Pensionierung 1970 arbeitet sie in einem Verlag. Daneben schreibt sie ihre zahlreichen, mit Preisen überhäuften Bücher wie "Kalle Blomquist", "Ronja Räubertochter", "Die Kinder von Bullerbü", "Pippi Langstrumpf", "Brüder Löwenherz" oder "Michel aus Lönneberga". 1978 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1994 den Alternativen Nobelpreis. Astrid Lindgren starb im Alter von 94 Jahren am 28. Januar 2002.
Mehr Infos unter: www.astrid-lindgren.de
Die Ãœbersetzerinnen:
Angelika Kutsch, 1941 geboren, ist eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin. Kutsch schreibt Kinder- und Jugendliteratur und ist eine renommierte Übersetzerin aus dem Schwedischen. 1975 Sonderpreis zum Deutschen Jugendbuchpreis für ihren Roman "Man kriegt nichts geschenkt". 2014 Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.
Gabriele Haefs, 1953 geboren, ist seit den achtziger Jahren als Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen, Gälischen und anderen Sprachen tätig. Sie lebt in Hamburg.
Astrid Lindgren
Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945
Originaltitel: Krigsdagböcker 1939–1945
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs
Vorwort von Antje Rávic Strubel
Ullstein Verlag, erschienen am 25. September 2015
Gebunden, 576 Seiten
ISBN 9783550081217
24,00 Euro
www.ullsteinbuchverlage.de
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