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Beitrag vom 14.03.2015
Jüdischer Almanach - Begegnungen. Herausgegeben von Gisela Dachs mit Fotografien von Vered Navon im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem erschienen im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag
Lisa Sophie Kämmer
Jede von uns wird durch ihre Umgebung und die Menschen, denen sie täglich begegnet, geprägt. Das jüdische Jahrbuch, herausgegeben von den Leo Baeck Instituten, widmet sich dieser Vielfalt ...
... von Begegnungen.
Das AutorInnenkollektiv präsentiert dabei eine vielstimmige Zusammenschau persönlicher Erfahrungshorizonte, in deren Fokus anlässlich des 50. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland vor allem die israelisch-deutschen Begegnungen stehen.
"Alles wirkliche Leben ist Begegnung", bilanzierte der bedeutende jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) in seiner Programmschrift "Ich und du" aus dem Jahre 1923. Für Buber sind es die alltäglichen Begegnungen, die den einzelnen Menschen prägen, die ihn seine Umwelt erleben und erfahren lassen, wodurch er erst in die Lage versetzt wird, sich seines Selbst zu vergewissern. Zum fünfzigsten Todestag Martin Bubers widmet sich der im Jahr 2014 erschienene Jüdische Almanach diesem Begegnen, das von Buber zu einem existentiellen anthropologischen Prinzip erklärt wurde.
Der Jüdische Almanach
Der Almanach, der seit 1993 vom Leo Baeck Institut Jerusalem herausgegeben wird und aus jüdischer Perspektive Lebensthemen wie "Liebe", "Identitäten", "Kindheit" oder den Prozess des Älterwerdens behandelt, umfasst in diesem Jahr insgesamt neunzehn Essays verschiedener AutorInnen.
Neben der Herausgeberin Gisela Dachs, die in einem gelungenen Überblick das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1965 nachzeichnet, berichten unter anderem die Judaistinnen Verena Lenzen und Mirjam Zadoff, der ARD-Korrespondent Richard C. Schneider sowie der seit einigen Jahren in Berlin lebende Journalist der israelischen Tageszeitung Haaretz, Assaf Uni.
Begegnungen der AutorInnen
Die kurzen Abhandlungen über erlebte Begegnungen, die sich zu einem großen Teil aus den persönlichen Erfahrungen der Autorinnen und Autoren speisen und somit Einblicke in ihre Wahrnehmungs- und Erkenntniswelt offenbaren, bieten ein vielseitiges Panorama.
Während in den philosophischen Schriften Bubers vor allem das dialogische Verhältnis des Menschen zu Gott im Vordergrund steht, sind es im Almanach ausschließlich Erfahrungen mit der irdischen Mitwelt, die von den AutorInnen geteilt werden. So erfährt die Leserin von der emotionalen Begegnung der Schriftstellerin Amelie Fried mit ihrem Onkel aus den USA, der als "Halbjude" 1939 aus Deutschland geflohen war und von dessen Existenz sie erst durch Zufall erfuhr, während die Sozialpädagogin Noemi Staszewski, die von 2002 bis 2013 den Frankfurter "Treffpunkt" für Überlebende der Shoah und ihre Nachkommen leitete, eindrücklich von ihren dortigen Erfahrungen berichtet. Dabei wird deutlich, wie sehr die Begegnung und Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, die viele der traumatisierten Überlebenden zeitlebens mieden, aus Angst, ihre nie gänzlich verheilten Wunden würden so erneut aufreißen, immer auch Spuren bei den ZuhörerInnen hinterlassen.
50 Jahre diplomatische Beziehungen Deutschland-Israel
Anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, die ebenfalls 2015 stattfinden und denen sich unter anderem die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr schwerpunktmäßig widmet, thematisieren vier der Essays, sowohl aus deutscher als auch israelischer Perspektive, das Verhältnis zwischen den beiden Nationen, wie es sich seit 1945 entwickelt hat. Neben dem bereits erwähnten Beitrag von Gisela Dachs, durch den der Leserin wichtige historische Informationen zu den deutsch-israelischen Beziehungen an die Hand gegeben werden, ist es vor allem der Beitrag des Journalisten Assaf Uni, der in seiner klaren und in weiten Teilen humoristisch gefärbten Schreibweise überzeugt.
Ein Israeli in Berlin: gemischte Gefühle
In seinem Beitrag berichtet der seit einigen Jahren in Berlin lebende Assaf Uni von seinen Erfahrungen, die er als Israeli in der deutschen Hauptstadt gemacht hat. Diese sind überaus vielschichtig: Das quirlige, bunte Berlin, in dem gegenwärtig mehr als 20.000 Israelis leben, fasziniert auch ihn. Die Vergangenheit jedoch ist nur schwer zu ignorieren. Im Gegenteil, erst in Deutschland sieht er sich mit der Shoah und seiner eigenen Familiengeschichte emotional konfrontiert. Er beginnt, zu zweifeln und wird rastlos. Und so mischt sich im Zuge seiner Begegnungen neben die Faszination immer auch ein tiefes Unbehagen, ein Unbehagen, das laut Assaf Uni solange bleiben wird, "bis wir uns damit auseinandersetzen, uns begegnen".
Zur Herausgeberin: Gisela Dachs 1963 in der Oberpfalz geboren, ist Publizistin und Journalistin. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften und Philosophie an der Sorbonne in Paris war sie von 1987 bis 1989 Auslandsredakteurin für die französische Tageszeitung Libération. Seit 1994 lebt und arbeitet sie als Nahost-Korrespondentin in Israel, wo sie für DIE ZEIT, seit 2014 auch für die NZZ am Sonntag berichtet. Gisela Dachs ist ständige Autorin für das deutsch-jüdische Monatsmagazin Aufbau, das 1934 als Exil-Zeitung in New York gegründet wurde und seit 2005 seinen Sitz in Zürich hat. Ihre Artikel und Monografien behandeln die gegenwärtige politische Lage in Israel, das israelisch-palästinensische Verhältnis sowie die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Ihre wichtigsten Schriften sind: "Getrennte Welten. Israelische und palästinensische Lebensgeschichten", Basel 1998, Deutsche, Israelis und Palästinenser. Ein schwieriges Verhältnis, Heidelberg 1999, "Deutsch-israelische Beziehungen. Eine Zwischenbilanz, München 2009.
Neben der Herausgeberinnenschaft des Jüdischen Almanachs arbeitet Dachs als Referentin für die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Bundeszentrale für politische Bildung, ist seit 2009 Lehrbeauftragte an der "Sammy Ofer School of Communications" in Herzlia sowie regelmäßige Interviewpartnerin zum Thema Nahost, unter anderem für den Deutschlandfunk. Sie lebt in Tel-Aviv.
Zur Fotografin: Vered Navon studierte Filmwissenschaften und Fotografie in Tel-Aviv und New York. Ihre Arbeiten, die vor allem das friedliche Zusammenleben von Israelis und Palästinensern, für das sich Navon als politische Aktivistin seit vielen Jahren ausspricht und engagiert, in den Blick nehmen, wurden in verschiedenen Magazinen und Büchern, sowohl in Israel, Deutschland als auch den USA veröffentlicht. Sie lebt in Jaffa, Israel.
Website der Fotografin: vnavon.co.il
AVIVA-Tipp: Der Jüdische Almanach bietet nach den Themenschwerpunkten "Sport", "Proteste" und "Alter" auch in diesem Jahr eine vielfältige, in sich stimmige Zusammenschau verschiedener Sichtweisen und Erfahrungshorizonte, die durch ihre sinnhafte Anordnung überzeugen. Die knappen Essays, die sich hervorragend auch "zwischendurch" lesen lassen, offerieren der Leserin so eine Bandbreite persönlicher Perspektiven, aber auch objektiv-wissenschaftlicher Abhandlungen. Das Jahrbuch begeistert zudem durch die Arbeiten der Fotografin Vered Navon, die den Almanach durchziehen und in denen sich alltägliche Szenen aus Israel erkennen lassen, die leider jedoch – und dies wäre einzig zu kritisieren – nicht beschriftet sind.
Jüdischer Almanach - Begegnungen
Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute
Herausgegeben von Gisela Dachs mit Fotografien von Vered Navon
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen am 15. September 2014
Broschur, 217 Seiten
ISBN 978-3-633-54270-3
16, 95 Euro
www.suhrkamp.de
Weitere Infos unter:
www.de50il.org/de Website zu 50 Jahre diplomatische Beziehungen Deutschland-Israel
www.leipziger-buchmesse.deLeipziger Buchmesse 2015. Deutschland - Israel
www.lbi.org Jüdische Almanache des Leo Baeck Institute (1993-2014)
www.lbi.org Das Leo Baeck Institute New York – Berlin
Ausstellung: Jahrhundertzeichen: TEL AVIV Museum of Art visits BERLIN Martin-Gropius-Bau vom 27. März bis 21. Juni 2015
Aus Anlass des 50. Jahrestages der Aufnahme der diplomatischen deutsch-israelischen Beziehungen entsendet das Tel Aviv Museum of Arts etwa 70 Meisterwerke erstmals nach Europa – nach Berlin. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt in der Moderne und wird ergänzt durch zeitgenössische Medienkunst aus Israel.
Veranstaltungsort: Martin-Gropius-Bau
Infos unter: www.berlinerfestspiele.de
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