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Beitrag vom 08.02.2015
Swetlana Alexijewitsch - Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Ab Februar 2015 als suhrkamp taschenbuch
Doris Hermanns
Vor über 20 Jahren wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bedeutet dies für die Menschen in den ehemaligen Unionsrepubliken und warum greifen viele von ihnen auf überholt geglaubte Ideale zurück?
Die Schriftstellerin und Reporterin Swetlana Alexijetwitsch lässt in ihrem Buch Secondhand-Zeit zahlreiche Menschen zu Wort kommen, die die Umbruchzeit miterlebt haben. Die Frage, die sie ihnen stellte, war "Was ist Freiheit?". Wo die Älteren sie als Abwesenheit von Angst definieren, sehen Jüngere innere Freiheit als absoluten Wert. Und genau darin macht sich für sie bereits der Unterschied fest: Die Jüngeren heute wissen, was Kapitalismus bedeutet, "sie haben es zu spüren bekommen: Ungleichheit, Armut, dreist zur Schau getragener Reichtum, sie haben das Leben ihrer Eltern vor Augen, die von dem geplünderten Land nichts abbekommen haben. Sie sind radikal eingestellt. Träumen von ihrer eigenen Revolution. Sie tragen rote T-Shirts mit Bildern von Lenin und Che Guevara." Dies führt zu einem neuen Bedürfnis nach der Sowjetunion, viele junge Menschen halten Stalin für einen großartigen Politiker, veraltete Ideen leben wieder auf und werden verklärt: vom großen Imperium, von der "eisernen Hand", vom "besonderen russischen Weg" – und auch von der absoluten Macht für den Präsidenten, wie sie früher der Generalsekretär hatte. Wie Alexijewitsch es benennt: "die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz", es ist eine Secondhand-Zeit, eine Zeit der bereits gebrauchten Ideen und Worte.
Die Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken hatten geglaubt, dass die Freiheit anbrechen würde, "aus dem Nichts, allein aus unseren Wünschen". Es war eine kurze Phase der Begeisterung: "Tausende neue Emotionen, Zustände, Reaktionen ... Irgendwie war plötzlich alles anders: die Plakate, die Dinge, das Geld, die Staatsflagge ... Auch die Menschen selbst. Sie waren auf einmal farbiger, individueller, der Monolith war gesprengt, das Leben in einzelne Inseln, Atome, Zellen zerfallen."
In den 1990er-Jahren – also nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums - waren sie glücklich, aber zu dieser Naivität können sie nicht mehr zurück: "Wir glaubten, die Entscheidung sei gefallen, der Kommunismus hätte ein für alle Mal verloren. Dabei fing alles erst an." Sie hatten die Illusion, dass Freiheit "ganz einfach" sei, aber inzwischen ist sie eine Bürde geworden, denn niemand hat sie Freiheit gelehrt. "Nur, wie man für die Freiheit stirbt." Die Mehrheit ist inzwischen von der Freiheit verunsichert. Wo sie früher die Prawda gelesen hatten und glaubten Bescheid zu wissen, gibt es heute mehrere Zeitungen und in jeder steht eine andere Wahrheit.
Es ist keineswegs ein positives Bild, das Alexijewitsch in diesem Buch von Sowjet-Menschen skizziert, sie beschreibt sie als Menschen voller Hass und Vorurteile: "Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Etwas anderes kannten wir nicht."
Ihr Interesse ist es, die Spuren der sowjetischen Zivilisation festzuhalten, sie fragt nach den Gefühlen der Menschen, nach den Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens. Für sie ist dies die einzige Möglichkeit, davon zu erzählen, sie versucht, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen, um sie so verständlich zu machen. Anders als HistorikerInnen, die sich nur für die Fakten interessieren, richtet sie ihren Blick auf die Gefühle der Menschen und staunt immer wieder darüber, wie interessant das normale menschliche Leben ist, wie unendlich viele unterschiedliche Wahrheiten es gibt.
Alexijewitsch kommt zu dem Schluss: "Die Menschen möchten einfach nur leben, ohne große Idee. So etwas hat es in der russischen Geschichte noch nie gegeben, so etwas kennt auch die russische Literatur nicht. Im Grunde sind wir Menschen des Krieges." Und lässt als letztes eine "Normalbürgerin" zu Wort kommen, die fragt, um was für Erinnerung es geht. "Ich lebe wie alle. (...) Jetzt heißt es, das war ein großes Imperium, und nun ist alles verloren. Aber was habe ich verloren? Ich lebe genau wie früher (...)."
AVIVA-Tipp: Swetlana Alexijewitsch gibt in ihrem Buch einen sehr differenzierten Überblick über die Lebenssituation in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Durch die unterschiedlichen Stimmen werden die verschiedensten Menschen des Homo sovieticus (wie sie sie nennt) lebendig. Es wird deutlich, was es bedeutet, wenn von einem Tag auf den anderen ein Lebensplan zusammenbricht und Orientierungslosigkeit ausbricht. Bei all diesem Hass, der Verzweiflung, der Enttäuschung, der Selbstaufgabe bleibt kein Platz für Illusionen über einen positiven Wandel.
Zur Autorin: Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen "Roman in Stimmen". Ihre Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und Swetlana Alexijewitsch erhielt vielfache Auszeichnungen, darunter 1998 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Mehr Infos auf der Homepage von Swetlana Alexijewitsch: alexievich.info
Swetlana Alexijewitsch
Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
suhrkamp taschenbuch 4572, erschienen 09.02.2015
Broschur, 569 Seiten
ISBN: 978-3-518-46572-1
Swetlana Alexijewitsch
Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Hanser Berlin erschienen 2013
Gebunden mit Umschlag, 570 Seiten
ISBN 978-3-446-24150-3
Euro 27,90
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