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Beitrag vom 14.07.2014
Anna Seghers - Erzählungen 1924-1932
Ahima Beerlage
Christa Wolf charakterisierte die Schriftstellerin als "Anna Seghers: Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter." 2014 erschienen ihre frühen Erzählungen, Zeugnisse ...
... ihrer literarischen Selbstfindung.
Die langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR zeigt in diesen Werken, noch unbeeinflusst von Parteiraison, fabulierfreudig ihren Blick für Menschen und ihre Verbundenheit mit AußenseiterInnen und AbenteurerInnen.
Nelly Reiling saß an ihrer Promotion über "Jude und Judentum im Werk Rembrandts", als sie 1924 "Die Toten auf der Insel Djal" schrieb. Sie war das einzige Kind des jüdischen Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig, die mit zu den ErbauerInnen der 1879 eingeweihten neuorthodoxen Synagoge in Mainz gehörten. Nelly studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie in Köln und Heidelberg, wo sie den ungarischen Soziologen und Kommunisten Laszlo Radvanyi kennenlernte. Er und seine FreundInnen begeisterten die junge Studentin für den Kommunismus. Zwischen den Welten ihrer neuen FreundInnen und ihrem bürgerlichen Elternhaus fühlt sich Nelly unbehaust. Es gibt nur eines, das ihr vertraut ist: Im Schreiben war sie seit Kindertagen zuhause. Seghers berichtet später über die Anfänge ihres Schreibens: Ich wurde dabei sicher, dass ich nur schreiben sollte. Es gab zwei Linien, erzählen was mich heute erregt u(nd) die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u(nd) wusste nicht, wie.
Ihre erste veröffentlichte Erzählung Die Toten auf der Insel Djal bezeichnet Nelly Reiling, die zunächst den AutorInnennamen Antje Seghers wählte, als Sage. Doch sie ist frei erfunden. Alfred Kerr hilft, die Geschichte in der Frankfurter Zeitung zu veröffentlichen und drei Jahre später auch die Erzählung Grubetsch. Inzwischen hat die Autorin László Radványi geheiratet, ist mit ihm nach Berlin gezogen und tritt 1928 in die KPD ein.
Immer mehr stellt sie ihre literarische Arbeit in den Dienst ihrer politischen Weltanschauung. In dem Fragment Die Wellblech-Hütte - Bruchstück einer Erzählung wird ein revolutionärer Intellektueller in ein Straflager geschickt, wo er sich eine Hütte mit einem Arbeiter teilen muss. Obwohl beide den gleichen politischen Kampf führen, hindert sein bürgerlicher Dünkel den Intellektuellen daran, sich mit dem einfachen Mann zu solidarisieren.
In der Erzählung Die Ziegler aus den Jahren 1927/28 verfolgt Seghers einfühlsam den Niedergang einer Familie von kleinen Gewerbetreibenden in der Wirtschaftskrise. Während alle Familienmitglieder sich gegen den sozialen Abstieg wehren, verharrt die mittlere Tochter Marie tatenlos ergeben und zerbricht daran.
1930 entstehen die Bauern von Hrushowo. Mit den Mitteln der Heimatchronik schildert Seghers, wie die Bauern sich unter ihrem Anführer Woytschuk gegen die Enteignung ihres Waldes wehren, ihrer Arbeits- und Lebensgrundlage, um der nächsten Generation die Zukunft zu sichern.
In den folgenden Erzählungen geht es um die Entscheidung zwischen der Scheinsicherheit eines privaten Glückes und der Pflicht, revolutionären Widerstand zu leisten, ein Konfliktfeld, das sie auch ganz persönlich betrifft. In Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft reiht ein Mann sich in den Protestzug gegen die Hinrichtung der Arbeiterführer Sacco und Vanzetti in den USA ein. Der Protest ändert sein Leben und das seiner MitstreiterInnen drastisch. In Marie geht in die Versammlung entscheidet sich eine Mutter, statt "für drei Kinder" nun "für drei Millionen Kinder" zu kämpfen. Diese begegnen ihr in Gestalt eines hungrigen fremden Jungen, der ihrem Sohn ähnlich sieht.
Anna Seghers, Kommunistin und Sinologin, ist vom Kampf der chinesischen GenossInnen fasziniert. Die beiden Erzählungen Der Führerschein und Die Stoppuhr schildern auf dem Hintergrund des Bürgerkrieges kenntnis- und bildreich individuelle und kollektive revolutionäre Befreiungsakte.
Im Anhang stellt der Sohn Anna Seghers, Pierre Radvanyi, weitere Manuskripte zur Verfügung, die sie nie vollendet hat. Die verschiedenen Stadien und Korrekturen an den Manuskripten zeigen ihre akribische Arbeit an den Geschichten, die sich aber auch durch die politische Entwicklung der Autorin mit den Jahren verändert haben. In dieser Rezeption ihrer früheren Arbeiten wird die literarische Selbstfindung der jungen Anna Seghers akribisch aufgearbeitet und in den zeitgenössischen Kontext gesetzt. Damit vervollständigt sich auf beeindruckende Weise die Werksausgabe dieser facettenreichen Autorin und Zeitzeugin.
AVIVA-Tipp: In einer Zeit, in der auch komplexe KünstlerInnen-Persönlichkeiten, die im anderen Deutschland führende Positionen inne hatten, gern pauschal unter "SED-freundliche MitläuferInnen" entsorgt und abgeheftet werden, droht auch die Arbeit Anna Seghers, engagierte Kommunistin und langjährige Vorsitzende des SchriftstellerInnenverbandes der DDR, in Vergessenheit zu geraten. Diese Sammlung ihrer frühen Erzählungen wirkt dem entgegen. Detailliert wird ihre erste Schaffensperiode und ihre Selbstfindung als Schriftstellerin dokumentiert und aufgearbeitet. Eine wichtige und längst fällige Ergänzung zum Gesamtwerk der großen Erzählerin.
Zur Autorin: Anna Seghers, als Tochter von Hedwig und Isidor Reiling am 19. November 1900 als Nelly Reiling in Mainz geboren. Der Vater betreibt eine Kunst- und Antiquitätenhandlung. Die Familie gehört der Orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft an. Die Tochter genießt eine gute Schulbildung und macht nach einer Unterbrechung als Kriegshelferin im Ersten Weltkrieg 1917 Abitur. Sie studiert in Heidelberg und Köln Geschichte, Marxismus, Sinologie und Kunstgeschichte. In Heidelberg lernt sie den Soziologen Laszlo Radvanyi kennen, einen ungarischen Soziologen und Kommunisten im Exil. 1924 promoviert sie zur Doktorin der Philosophie. Sie heiratet Radvanyi und zieht mit ihm nach Berlin, wo sie 1928 in die KPD eintritt. 1926 wird Sohn Peter, 1928 Tochter Ruth geboren. Anna Seghers tritt dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bei. 1933 flieht die Familie vor den Nazis nach Paris. Seghers beteiligt sich an der Neugründung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris. Radvanyi wird unter seinem deutschen Decknamen Johann Schmidt festgenommen und in Südfrankreich interniert. Seghers muss sich in Paris verstecken, kann aber nach einiger Zeit in unbesetztes Gebiet fliehen. Sie kämpft darum, ihren Mann frei zu bekommen und ausreisen zu dürfen. Die Ausreise gelingt und führt sie auf Umwegen nach Mexiko. 1942 erscheint Das siebte Kreuz. 1942 erleidet sie einen schweren Autounfall, an dem sie lange laboriert. 1947 kehrt sie nach Berlin-Wannsee zurück, erhält den Georg-Büchner-Preis. Sie wird in der Friedensbewegung aktiv, reist mit anderen SchriftstellerInnen nach Moskau. Als sich die DDR konstituiert, gehört sie zu den Gründungsmitgliedern der Akademie der Künste. Sie veröffentlicht zahlreiche Bücher. Anfang der Sechzigerjahre wird sie auch zunehmend in Westdeutschland wahrgenommen. Sie ist politisch aktiv und viele Jahre Präsidentin des SchriftstellerInnenverbandes der DDR. 1983 stirbt sie und wird mit einem Festakt der Akademie der Künste auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.
Anna Seghers
Erzählungen 1924-1932
Werkausgabe
Herausgegeben von Helen Fehervary und Bernhard Spies. Bandbearbeitung Peter Beicken
Leinen mit Schutzumschlag, 351 Seiten
Aufbau Verlag, erschienen 2014
978-3-351-03470-2
34,00 Euro
Weitere Infos unter:
www.aufbau-verlag.de
www.anna-seghers.de
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