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Beitrag vom 29.04.2014
Fred Vargas - Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben
Kristina Tencic
Auf, auf, alle an Bord! Schnallen Sie sich Ihren Freien Willen um und halten Sie Ihr Tiefstinneres fest - und los geht´s mit der meistgelesenen Krimiautorin Frankreichs auf ein zweites...
... literarisches Abenteuer über das offene Meer, das sich das Leben nennt. Sie müssen schneller rudern, wenn Sie dem Hammerhai Langeweile entkommen möchten!
Zitat:
"Im Nichtstun liegt eine unergründliche Tugend, und es gehört auch einiger Mut dazu. Darüber gäbe es eine ganze Menge zu sagen, vielleicht kommen wir noch einmal auf diesen höchst bedeutsamen Gedanken zurück. Ich sage also "ihr und ich", ihr aber helft mir, zugegeben, nicht viel, wenn ihr da müßig auf eurem Bett rumliegt und in einem Buch blättert, das ihr für leicht Lektüre haltet. Ihr irrt euch. Denn es ist kein leichtes Buch [...]nur bemerkt ihr es nicht. Genau das ist der Trick."
Ja, genau das ist der Trick, den die französische Krimilegende Fred Vargas hier in ihrem zweiten essayistischen Exkurs (nach "Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken", 2009) zur Perfektion vollführt. Sie stürzt uns, die LeserInnen, in die große Unendlichkeit der Themen, lässt uns dabei aber keine Sekunde aus den Augen und beschwert sich, wenn wir mal nicht ganz hinterherkommen: "ihr kommt zehn Minuten zu spät. Dabei habe ich immer sehr auf diesen zehn Minuten bestanden. Reißt euch zusammen, zum Teufel, erscheint hier gleichzeitig und mit dem Hintern zuerst, ich habe euch ein Konzept von einiger Tragweite mitzuteilen. Spürt ihr den bitteren Beigeschmack? Ich komme noch darauf zurück, nehmt erst mal ein Stück Zucker."
Zugegeben, manchmal verlässt die/den LeserIn den Mut bei dieser strengen Federführung und es bedarf schon etwas Konzentration, Vorstellungskraft und Muße um sich bei Laune zu halten und nicht die Lunte ins Korn zu werfen. Aber wer hat hier behauptet, dass es einfach wird? Fred Vargas ganz sicher nicht, sie weist uns schon zu Anfangs darauf hin, dass hier eine Heidenarbeit auf uns zukommt: "Ich will den Löwenanteil der Arbeit übernehmen, aber eine kleine Mitwirkung wäre mir schon sehr willkommen. Ich erinnere euch daran, dass es ja um euch und eure Glückseligkeit geht."
Doch lässt mensch sich erst einmal darauf ein und bleibt an Bord dieser fantasievollen Erzählflotte, so wird die Belohnung in Form von neuen Erkenntnissen und Gedanken sehr großzügig verteilt. Die als schüchtern und verschlossen geltende Autorin hält, was sie verspricht und nimmt uns mit in ihr Universum, das bei genauerer Betrachtung sehr viel Persönliches durchscheinen lässt: So etwa ist der Bezug zu ihrem eigentlichen Beruf und ihrer Herkunft sehr präsent. Als Tochter eines Schriftstellervaters, der Mitglied der SurrealistInnen war, und einer Chemikerin, arbeitet sie hauptberuflich als Mittelalterarchäologin und Archäozoologin, widmet jedoch ihre gesamte Freizeit der Literatur. Weltbekannt ist sie als Kriminalautorin vor allem mit ihren Adamsberg-Romanen, für die sie mit zahlreichen Preisen geehrt und die in über 40 Sprachen übersetzt wurden. Ihre Romane sind meist das Ergebnis eines einjährigen Denkprozesses, den sie im Sommerurlaub grob zu Papier bringt und danach detailversessen bis hin zur Veröffentlichung bearbeitet. Jeder Romanentwurf wird dem Familienrat vorgelegt, der "Werkstatt Vargas", die neben ihrer Logikkontrollierenden Mutter auch ihren Musikersohn für die Dialoge, und ihre Zwillingsschwester Joelle, die Malerin Jo Vargas, für die Sprachfärbung umfasst. Mit ihr unterhält der sogenannte fausse jumelle, der falsche, also der zweitgeborene zweieiige weibliche Zwilling Frédérique (Fred) Audoin-Rouzeau, eine symbiotische Beziehung. Von ihr hat sie auch das Pseudonym Vargas abgeschaut, eine Hommage an Ava Gardner, die im Film Die barfüßige Gräfin die tragische Heldin Maria Vargas verkörperte.
AVIVA-Tipp: Wie so oft bei der Lektüre von Vargas Romanen kommen der Leserin die Attribute "kurios, seltsam, verschroben und skurril" bei der Beschreibung ihres literarischen Wunderlandes in den Sinn. Auch ihr lebensphilosophischer Essay "Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben" fühlt sich an, als ob mensch sich in einem surrealistischen Salvador Dali-Gemälde befindet und statt der Augen sich selbst durch diese unwirtliche Landschaft gleiten lässt. Von einem Baum geht es über eine Pfütze weiter zu einer zerfließenden Uhr, vorbei an einem Elefanten auf Stelzenbeinen, hin zu einem Wesen mit leeren Schubladen statt Organen, bis sich der Blick an einer glatten Oberfläche spiegelt und dabei doch nur sich selbst entdeckt. Ein wahres Abenteuer liegt vor Ihnen, wenn Sie sich denn trauen.
Zur Autorin: Fred Vargas heißt eigentlich Frédérique Audoin-Rouzeau. Sie wurde 1957 in Paris geboren und arbeitet hauptberuflich als Mittelalterarchäologin und Archäozoologin, Spezialistin für mittelalterliche Funde von Tierknochen, für Flöhe und die Pest am Centre National de la Recherche Scientifique. Mit 28 Jahren fing sie in ihren 21 Tagen Urlaubszeit an, sich sogenannte Rompols (Abkürzung für "roman policier") auszudenken und erfand scheinbar im Vorbeigehen einen literarischen Stil, den Polar Poetique, den poetischen Krimi. Heute ist sie die bedeutendste französische Kriminalautorin und eine Schriftstellerin von Weltrang. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem erhielt sie 2004 für den Adamsberg-Roman "Fliehe weit und schnell" den Deutschen Krimipreis, 2007 für "Der vierzehnte Stein" den "The Duncan Lawrie International Dagger" und 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk.
Fred Vargas
Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben
Originaltitel: Critique de l´anxiete pure
Ãœbersetzung: Waltraud Schwarze
Aufbau Verlag, erschienen November 2013
Gebundenes Buch mit Leinen-Einband, 221 Seiten
ISBN-13: 9783351035532
ISBN-10: 3351035535
14,00 Euro
Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks
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