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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.03.2014


Marie Jalowicz Simon - Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945
Judith Kessler

50 Jahre "danach", am Ende ihres Lebens, hat Marie Simon, Altphilologin und Philosophiehistorikerin an der Humboldt-Universität, ihre Überlebensgeschichte "ausgeschüttet wie einen Eimer Wasser",...




... so ihr Sohn Hermann Simon, Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum". Unmittelbar danach ist sie 1998 gestorben.

Asylum ignorantiae

Was für eine Hinterlassenschaft: 75 Stunden Erinnerung auf 77 Tonbändern, von einer Frau, die mit einem fast fotografischen Gedächtnis gesegnet ist, die unglaublich präzise und detailreich von ihrem (Über-)Leben als U-Boot berichtet, episodisch, unsentimental, nichts beschönigend, nichts verschweigend, Zwänge und Zwangslagen zeigend.

Marie Simon Jalowicz wird 1922 als spätes Kind von Betti und Hermann Jalowicz in Berlin geboren. Hier macht sie 1939 ihr Abitur an der Oberschule der Jüdischen Gemeinde. Als ihr Vater, ein – in der Nazizeit fast zur Untätigkeit gezwungener – Rechtsanwalt, 1941 stirbt, hat Marie niemanden mehr und nicht einmal das Geld, ihn neben ihrer Mutter beerdigen zu lassen, die schon 1938 relativ jung an Krebs gestorben war.
Des Vaters Tod ist der Zeitpunkt, zu dem Marie beschließt, die Siemens-Werke, wo sie seit 1940 hatte Zwangsarbeit leisten müssen, zu verlassen und sich selbst zu retten, in die Illegalität zu gehen.

Im Juni 1942 taucht sie schließlich unter. Den Begriff "Illegalität", sagt Hermann Simon, fand seine Mutter für ihr Dasein im Krieg jedoch unpassend, denn illegal sei der größte Massenmord in der Menschheitsgeschichte gewesen, illegal war das Nichtleben lassen anderer, "illegal waren die Nazis, nicht ich."
Sie ist in diesem Moment 20 Jahre alt, sie ist allein und sie wird fast drei Jahre lang eine Gejagte sein. Jeden Tag und jede Stunde, bis zu dem Tag im Sommer 1945, an dem sie barfuß mit einem Leiterwagen und ihren paar Habseligkeiten von Kaulsdorf nach Pankow in die Freiheit und in ein neues Leben laufen wird.

Die drei Jahre dazwischen sind eine fast ununterbrochene Odyssee durch Berlin – 13 Wohnungen, die Provisorien dazwischen nicht gezählt, falsche Namen, falsche Haarfarbe, "falsche" Sprache – berlinern, um zu überleben: "Das feine Hochdeutsch hatte sich nicht bewährt. Es war vor allem das deutsche Bildungsbürgertum, das versagt hatte."

Ihre Quartiergeber und Helfer sind Nutten, Toilettenfrauen, Passfälscher, Konsularbeamte, Zirkusartisten, Kommunisten, Einbrecher, einfache gütige Leute, die sie zum Familienmitglied erklären, und andere, die ihr hlfen, aber auch bereit sind, sie zu verraten..
Die junge Frau ist wach und klug und lernt schnell: "In einer abnormen Situation darf man sich nicht normal benehmen. Man muss sich anpassen."
Marie ist gewitzt und hat blitzschnelle Eingebungen, zum Beispiel, als sie einem Briefträger, der mit einer Aufforderung vom Arbeitsamt kommt, sagt, er solle den Brief zurückschicken mit dem Vermerk, Marie Jalowicz sei bereits deportiert worden – und so aus den Akten der Behörden "verschwindet".
Oder als sie sich in der "Höhle des Löwen" versteckt, bei einem Bekannten in einer Polizeikaserne, weil man sie da mit Sicherheit nicht vermuten würde. Dann wieder übt sie sich im Umgang mit den Vertretern der Staatsgewalt: Sie und zwei Freundinnen fragen einen Polizisten nach einer Straße am anderen Ende der Stadt und sagen ihm bei jeder seiner Wegbeschreibungen, dass sie dort nicht lang gehen dürfen oder dass ihnen öffentliche Verkehrsmittel verboten sind. Bis der Mann entnervt aufgibt: "Macht doch diesen Scheißstern ab, steigt in die U-Bahn und fertig ist die Laube". Mit solchen "Spielen" lernt Marie Simon vor allem eins: selbstbewusst aufzutreten.

Marie will unbedingt leben. Sie greift nach jedem Strohhalm. Einer der Versuche, eine Scheinehe einzugehen, um ausreisen zu können, scheitert sogar erst in Bulgarien – sie wird denunziert, ausgewiesen und nach Berlin zurückgeschickt. Eine andere "Verlobung", diesmal mit einem Chinesen, führt auch nicht zum Ziel. Nur der Kantor wirft ihr im Namen des Synagogenvorstands das Verhältnis mit dem Chinesen vor, jedoch nicht, ohne sie am Ende für seine heiratsfähigen Töchter ebenfalls nach einem vakanten Chinesen zu fragen.

Ihr bleibt nichts weiter übrig, als es weiter in Berlin zu versuchen. Sie übernachtet unter ihrem falschen Namen und einer falschen Geschichte mal in einer Villa, mal im letzten Loch, auch bei Vollblutnazis, bei Typen, die behaupten, Juden am Geruch zu erkennen, Typen, die als Gegenleistung Beischlaf erwarten.
Da ist der Feuerwehrmann und seine Frau, die im ehemaligen Sommerhäuschen der Familie Jalowicz wohnen – von letzterer bekommt Marie ihre Identität geliehen, muss jedoch auch dem Hausherrn gefügig sein und die Frau ertragen, die sich als Widerstandskämpferin sieht, in der Abhängigkeit Maries ihren Lebenssinn findet und von ihr ewige Dankbarkeit erwartet.
Oft darf sie zwar irgendwo über Nacht bleiben, muss morgens aber die Wohnung verlassen und ist gezwungen, den ganzen Tag herumzulaufen und die Zeit totzuschlagen. "Wenn Heimat eine ertretbare Größe wäre", sagt sie in ihren Erinnerungen, "dann hätte ich mir die Stadt Berlin als Heimat ertreten".

Was ihr bei all dem bleibt, ist ihre (Neu-)gier nach Leben und Wissen. Sie lässt sich Bücher besorgen, ihre Helferin muss aber so tun, als würde sie die Bücher für sich selbst ausleihen. Marie schreibt von jedem Buch, das sie gelesen hat, eine Zusammenfassung, damit die Frau sie auswendig lernt und bei Nachfrage Rede und Antwort stehen kann.
Marie Simons Erinnerungen sind voll von solchen Absurditäten, den Zeichen ihrer "guten Antennen" für die jeweilige Situation, ihrer Vorsicht und Gewitztheit. Ihr Bekenntnis – am Endes des Lebens die ganze Wahrheit sagen zu wollen – spart auch die unappetitlichen Details nicht aus, wie die zwangsweise Nutzung des einzigen vorhandenen Topfes in einem Versteck für das Essen und die Notdurft, oder die sexuellen Dienste für einige ihrer "Helfer".

Diese schonungslose Offenheit macht das Buch so authentisch und zu einer Fundgrube – für das große Spektrum an menschlichen Gründen und Abgründen. Marie Simons Aufzeichnungen helfen, ansatzweise zu verstehen, was es alles bedurfte, um in einer derart feindlichen Umgebung auch nur eine minimale Überlebenschance zu haben. Und es zeigt, wie überaus wichtig Kleinigkeiten dabei waren, ihr Mut und Hoffnung zu geben.

Ihre Erinnerungen reihen letztlich Zufälle – und kleinen Geste im richtigen Augenblick – aneinander: Da ist der Arbeiter, der ihr spontan eine Jacke schenkt, als sie halbnackt aus einem Haus fliehen muss, da ist der alte Herr, der trotz Kälte bei offener Tür schläft, um zu hören, ob etwas bedrohliches im Haus vorgeht und sie zu warnen, oder der Hausmeister, der auf dem Dachboden eine Öffnung zum Nebenhaus als möglichen Fluchtweg einbauen lässt, oder die Frau, die ihr ein Kuchenpaket schickt: "Dann probierte ich ein ersten Stückchen. Und dann liefen mir plötzlich die Tränen herunter. ... ich schämte mich vor mir selbst. Ich hatte nicht einmal geweint, als meine Verwandten ins Vernichtungslager abtransportiert worden waren, Aber jetzt konnte ich die Tränen nicht zurückhalten... Ich spürte plötzlich wieder, wie schön das Leben sein konnte".

Als kaum mehr Unterkünfte zu finden sind, kommt eine Freundin auf die Idee, ihrem ehemaligen Nachbarn, einem leicht vertrottelten holländischen Fremdarbeiter, Marie als Mitbewohnerin und Lebensgefährtin "aufzuschwatzen". Dies wird sie vorerst retten. Der Holländer ist mal nett, mal schwer zu ertragen. Wenn sie liest, anstatt sich ihm zu widmen, wird er wütend und haut ihr auch schon mal ein Veilchen. Pragmatisch sagt sie: "Anfangs war mir das sehr peinlich. Dann aber merkte ich, dass ich erst jetzt genau in das Milieu passte, in das ich geraten war: Mein blaues Auge fiel nicht auf, sondern machte mich unauffällig. Es gehörte sozusagen dazu".

Dennoch sind sich die beiden gegenseitig von Nutzen – "Wenn wir die Befreiung erleben würden, wären wir quitt" – und leben als Untermieter in einer verwanzten Wohnung an der Oberbaumbrücke über ein Jahr lang ein fast normales Leben, ein Leben, für das Marie sich manchmal beinahe schämt.

So wie zu dem Holländer und vielen anderen Helfern, die zugleich meist Nehmer waren und aus Eigennutz handelten, war auch Maries Verhältnis zu der Wirtin dieser Wohnung höchst ambivalent. Die alte Frau ist eine Kleinkriminelle und "Nazisse", ihr Sohn bei der SA. Aber man arrangiert sich und mit der Zeit entsteht ein merkwürdiges Bündnis zwischen den beiden: "Ich hasste diese widerliche, braune, zotige, kriminelle Erpresserin. Und ich liebte sie als Mutterfigur. So ist eben das Leben, so kompliziert."

Das Ungewöhnliche dieser jungen Frau ist ihre Fähigkeit zu differenzieren und zu reflektieren, ohne Schaum vor dem Mund. Jede Zeile ist ein Zeugnis dafür, wie dicht Gut und Böse, Zufall und Plan, beieinander liegen. So sieht sie zurückblickend auch den Zufall – das "Hilfs- und Hilflosigkeitswort", Spinozas asylum ignorantiae, oder eine Kette an Zufällen als entscheidenden Faktor bei allen Überlebensgeschichten an. Vorbestimmung gibt es nicht. Als der Krieg in sein letztes Stadium kommt, und sie immer wieder stundenlang mit Leuten, die "unsagbar dummes Zeug quasselten" in den Splittergräben sitzen muss, ärgert sie sich nur, "dass der Krieg auf so langweilige, banale Weise zu Ende ging und dass ich nicht mitten im Schlachtengetümmel stand".

AVIVA-Tipp: Unbedingt lesenswert!

Marie Jalowicz Simon
Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945

S. Fischer Verlag, erschienen 2014
416 S. mit Abbildungen
Mit einem Nachwort von Hermann Simon, Sohn von Marie Jalowicz Simon, Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum
ISBN: 978-3-10-402897-2
22,99 Euro
www.fischerverlage.de


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