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Beitrag vom 12.02.2014
Zadie Smith - London NW
Julia Lorenz
Rau, laut und alles andere als royal: Der Nordwesten der englischen Hauptstadt ist wahrlich kein TouristInnenmagnet. Leah und Natalie leben trotzdem dort - erfolgreich, aber unglücklich. Und das...
...obwohl sie die Betonwüsten ihrer Kindheit längst verlassen haben.
Neukölln ist ja angeblich überall. Auch in London, wo Neukölln Willesden heißt. Und dort scheint der Alltag in der allgemeinen Wahrnehmung - wie in Berlins ehemaligen ArbeiterInnenbezirken - hauptsächlich aus Überfällen und "Ehren"morden zu bestehen. Autorin Zadie Smith, selbst im multikulturellen Willesden geboren und aufgewachsen, erkundete mit ihrem Debut "Zähne zeigen" aus dem Jahr 2001 das Leben im Nordwesten der englischen Hauptstadt - und setzte den "Problemviertel"-Debatten einen ebenso skurrilen wie klugen Beitrag zur Lebensrealität von MigrantInnen entgegen, der ihr internationale Aufmerksamkeit und zahlreiche Auszeichnungen bescherte.
Entsprechend gespannt wurde nun mehr als sieben Jahre nach ihrem letzten Roman "Von der Schönheit" das neue Werk der heute Achtunddreißigjährigen erwartet. Und das setzt auf ein bewährtes Konzept aus neuer Sicht: Sind es in "Zähne zeigen" die ungleichen Kumpels Archie Jones und Samad Iqbal, die Zadie Smith über Jahre durch ihr Leben begleitet, schildert "London NW" das Geschehen aus weiblicher Perspektive.
Zwei Lebensläufe
Wieder sind es zwei Freundinnen, die ihr Hauptstadt-Leben abseits der TouristInnenpfade im Nordwesten Londons bestreiten: Leah Hanwell und Natalie Blake. Beide Frauen haben auf den ersten Blick viel erreicht: Sie haben die Hochhaussiedlungen ihrer Kindheit hinter sich lassen können, sind in Beziehungen und finanziell unabhängig, emanzipiert und selbstbestimmt. Leah ist kinderlos und wenig ambitioniert, in ihrem Job bei einer sozialen Organisation aufzusteigen, Natalie hat zwei Kinder und arbeitet als erfolgreiche Anwältin.
Während Leah zu Schulzeiten eher durch Marihuanakonsum als durch Ehrgeiz auffiel, entschied sich Natalie schon früh dafür, in der städtischen Bibliothek an ihrer Zukunft zu arbeiten und sich nicht zuletzt von ihrem früheren Namen "Keisha" zu trennen; wohl, weil "Natalie" irgendwie mehr nach weißem BildungsbürgerInnentum klingt. Als "Kokosnuss" bezeichnet sie deshalb eine ehemalige Klassenkameradin, mit der es das Leben weniger gut gemeint hat: "Außen braun, innen weiß." Der Umstand, dass Natalie als woman of colour den "sozialen Aufstieg" geschafft hat, scheint im postethnischen London keine Seltenheit zu sein und wird von Zadie Smith angenehm unspektakulär eingeführt, aber dennoch nicht von allen Menschen, die Natalies Weg kreuzen, als selbstverständlich erachtet.
Dissonanzen und Zwischentöne
Aber was nach dem perfektenHappy End für eine traurige Milieustudie klingt, bringt Leah und Natalie keine Erfüllung: Pro forma sind die beiden noch immer beste Freundinnen, doch im Grunde haben sie den Draht zueinander längst verloren, stehen dem Lebensstil der anderen einerseits argwöhnisch gegenüber und neiden sich andererseits ihre Erfolge. Ihr Unbehagen angesichts ungenutzter Möglichkeiten, verpasster Chancen und Routinen, die sich einzuschleifen drohen, ist stärker als der Stolz auf Erreichtes - und blockiert alle Versuche, der latenten Traurigkeit mit Veränderungen entgegenzutreten: Auch wenn der Klappentext von "London NW" ankündigt, dass sich nach einem überraschenden Besuch "die Ereignisse überschlagen", passiert inhaltlich in erster Linie: Nichts. Oder zumindest wenig. Dramatische Umwälzungen will Smith ihren krisenerfahrenen Protagonistinnen nicht zugestehen - oder vielleicht auch antun -, laute Töne bestimmen nicht die Gesamtkonstruktion der Handlung. Vielmehr lebt der Roman von den Dissonanzen des urbanen Lebens, die Smith kühn in Sprache zu überführen weiß: Mal melancholisch-poetisch, mal atemlos und hektisch klingt der Bericht aus den überfüllten Straßen Londons.
Stilistisch lässt sich die Autorin nicht verorten, spielt mit Assoziationen und Aussparungen, nimmt sich dann wieder Zeit für hyperrealistische Schilderungen und zeigt sich bei aller Liebe für temporeiche Schilderungen als aufmerksame Beobachterin: Zwischen scheinbar unverfänglichen Gesten und harmlosen Kommentaren öffnen sich kleine Abgründe für die ProtagonistInnen. Wie verfahren das gute Leben sein kann, offenbart sich in kurzen Augenblicken, die Zadie Smith so pointiert zu beschreiben weiß, dass es schmerzt: Seitenhiebe, Schweigen an der falschen Stelle und dieser Tonfall, der mehr preisgibt als das eigentlich Gesagte - das Unglück der Protagonistinnen lässt sich erst bei genauerem Hinsehen in Worte fassen.
Würde sich Smith nur auf die verfahrene Situation von Leah und Natalie fokussieren, die Konsequenz wäre ein überraschendes Portrait von Londons Nordwesten: Ein "Problembezirk" ohne Probleme. Zumindest ohne Probleme, die in Verbindung mit Kriminalität und Drogenkonsum stehen. Felix und Nathan, zwei ehemalige Mitschüler der Protagonistinnen, betreten in einem weiteren Erzählstrang als Gegenbeweise die Bühne: Anders als Leah und Natalie, die auch ihr Wohlstand nicht wirklich glücklich machen kann, geht es für sie - sowie für einige andere Nebencharaktere - ums Überleben. Aber das ist eine andere Geschichte. Oder auch nicht. Schließlich passiert in "London NW" genau das, was den Alltag in Willesden und Neukölln wirklich ausmacht: Der Zusammenprall von Existenzen, die unterschiedlicher kaum sein könnten - Reibung, aber auch Wärme nicht ausgeschlossen.
AVIVA-Tipp: Kann ein Roman, der auf mehr als vierhundert Seiten nahezu keine Handlung entfaltet, wirklich fesseln? Kann er. Zumindest wenn ein Erzähltalent wie Zadie Smith am Werk ist. "London NW" kann auf unterschiedlichste Arten gelesen werden: Als Portrait einer zerrissenen Frauengeneration, als sozialkritische Betrachtung des heterogenen Londons - oder als Hassliebeserklärung an einen Stadtteil, der seinem schlechten Ruf nicht immer gerecht wird. Egal wie: Ein stilistisches Erlebnis ist der Smiths neues Werk auf jeden Fall.
Zur Autorin: Zadie Smith wurde 1975 in Willesden/Nord-Londons als Tochter jamaikanisch-britischer Eltern geboren. Im Alter von vierzehn Jahren änderte sie ihren Geburtsnamen Sadie in "Zadie". Nach dem großen Erfolg ihres Debuts "Zähne zeigen" (im englischen Original "White Teeth"), für das sie unter anderem mit dem Guardian First Book Award ausgezeichnet wurde, veröffentlichte Smith 2002 ihren Roman "Der Autogrammhändler", der vom Feuilleton allerdings nicht im selben Maße beachtet wurde wie ihr Erstlingswerk. Ihr dritter Roman Von der Schönheit, erschienen 2006, konnte an alte Erfolge anknüpfen und wurde u.a. mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Smith ist verheiratet und lebt noch immer im Norden Londons.
Zadie Smith
London NW
Originaltitel: NW
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Verlag Kiepenheuer und Witsch, erschienen 2013
428 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag
19,99 Euro
ISBN: 978-3-462-30719-1
Weitere Infos unter: www.kiwi-verlag.de
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