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Beitrag vom 14.06.2013
Ulli Lust/Marcel Beyer - Flughunde
Clarissa Lempp
Comic-Zeichnerin Ulli Lust macht aus Marcel Beyers Romanvorlage eine bewegende Graphic Novel. Eine Geschichte über die Welt der Töne, über das laute und das leise Grauen und über Goebbels Kinder.
Nach dem erfolgreichen AutorInnen-Comic "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" verbildlichte Ulli Lust nun einen Roman als Graphic Novel. In "Flughunde" erzählt Marcel Beyer die fiktive Geschichte des Tonforschers und Tontechnikers Hermann Karnau, der seine Fähigkeiten während des zweiten Weltkriegs für die Propaganda der Nazis zur Verfügung stellt. Getrieben von der Obsession, menschliche Geräusche zu archivieren, treibt es Karnau an die Front und schließlich zu den schrecklichen Menschenversuchen in den NS-Laboren. Je tiefer Karnau in die Maschinerie eindringt, desto näher kommt er auch der Familie des Reichspropagandaleiters Joseph Goebbels. Als Berlin eingenommen wird, sitzt Karnau schließlich mit im "Führerbunker".
Karnau ist ein ambivalenter Protagonist. Seine Distanz auf das Geschehen und das grausame Handeln in den Laboren stehen entgegen der fast autistisch wirkenden Hingabe zur Welt der Töne und dem ruhigen und freundliche Wesen, mit dem er die Kinder im Bunker tröstet. Während Karnau eine seltsam ungreifbare Figur bleibt, steuert "Flughunde" den Blick immer wieder auf die Kinder der Goebbels. Ihre Spiele in der Berliner Villa, ihre Wahrnehmung der Familienverhältnisse, der NS-Werte und des näher rückenden Kriegsgeschehens werden aus der Sicht von Helga, der ältesten Tochter, erzählt. Der Kinderblick verträgt die eingebrachte Leichtigkeit und intensiviert die Schwere der letzten Tage im Bunker.
Marcel Beyers Romanvorlage beschwört bereits die Bilder einer Graphic Novel. So auch die Anfangsszene, in der eine Propagandaveranstaltung geprobt wird. Die "Krüppel", die "Blinden" und "Tauben", Kriegsversehrte, üben an einer Choreographie des Einmarsches. Die angestrebte Ordnung wird immer wieder vom Chaos torpediert. Mit der Umsetzung durch die Comic-Künstlerin Ulli Lust gelang dennoch eine Überraschung. In ihren gezeichneten Mini-Reportagen aus Berlin zeigte sie sich bereits als Meisterin der Szenerie, die nicht an der Illustration des Textes verhaftet ist.
Lust reduzierender Stil setzt jeden Strich auf das Bildgeschehen. Die Erzählebenen werden durch den Wechsel zwischen Naivität und Ausarbeitung kontrastiert. Die Bilder zeigen, dass sie gut recherchiert hat. Laute, Töne und Geräusche inszeniert sie vor allem in lautmalerischen Texten, die in die Szenen ein- oder aus ihnen herausbrechen. Obwohl durch die Farbhinterlegung eine unwirkliche manchmal unheimliche Atmosphäre vorherrscht, und die Figuren und Szenen auch mal dramaturgisch karikiert werden, bleiben sie in ihrer Detailtreue authentisch.
AVIVA-Tipp: "Flughunde" ist nicht zuletzt durch seine ProtagonistInnen von Anfang an eine Geschichte, die einfordert, sich einzulassen. Es ist eine verstörende Geschichte, die durch die Gestaltung von Ulli Lust eine Bildsprache fand. Kunstvoll zeigt sie, dass gute Graphic Novel-Adaptionen einen Roman nicht einfach ins Bild setzen, sondern auch die (leisen) Zwischentöne erst hörbar machen können.
Zur Zeichnerin: Ulli Lust, geboren 1967 in Wien, 1999–2004 Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, lebt und zeichnet Comics in Berlin. 2009 erschien ihr autobiographischer Comic-Roman "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens", der in sieben Sprachen übersetzt wurde und zahlreiche Preise erhielt. Sie betreibt den Webcomic-Verlag www.electrocomics.com, der internationale AutorInnencomics publiziert.
Ulli Lust/Marcel Beyer
Flughunde
Suhrkamp Verlag, Mai 2013
Taschenbuch, 364 Seiten, Format 24 x 17,2 x 2,8 cm
ISBN-10: 3518464264
ISBN-13: 978-3518464267
24,99 Euro
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