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Beitrag vom 14.06.2013
Nora Sternfeld - Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Buchvorstellung und Diskussion am 8. Juli in Berlin
Veronika Siegl
Welche Formen des Lernens muss die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der pluralistischen Gegenwart der Migrationsgesellschaft annehmen, fragt die Kunstvermittlerin und Kuratorin, die mit ...
... ihrem Buch einen Paradigmenwechsel in den festgefahrenen Strukturen der Erinnerungskultur einleiten will.
Theorie und Praxis
Erst ab den 2000er Jahren wird die Realität der Migrationsgesellschaft in den Diskursen der pädagogischen Erinnerungsarbeit zur Schoa anerkannt. Nichtsdestotrotz würde die Praxis oft der Heterogenität ihrer Akteur_innen und Adressat_innen weit hinterherhinken, so die Autorin. Sie nähert sich dieser Herausforderung aus einer poststrukturalistischen, bildungs- und museumstheoretischen Perspektive heraus und verbindet in der Publikation theoretische und praktische Zugänge.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. In der ersten Hälfte geht es um eine Kontextualisierung der Studie, in der Sternfeld die Bereiche der Geschichtsdidaktik, Holocaust Education und reflexiver Bildungswissenschaft, der kritischen Migrationspädagogik und der Vermittlungstheorie voneinander abgrenzt und gleichzeitig ihre Konzepte und Gedanken miteinander verbindet. Dabei spielen für sie die Arbeiten der Bildungswissenschaftler_innen Astrid Messerschmidt und Paul Mecheril eine wichtige Rolle. Im zweiten Teil der Publikation widmet sie sich der vermittlerischen Praxis anhand einer von ihr durchgeführten Studie.
"Und was hat das mit mir zu tun?"
Mit dieser Frage ging das Forschungs- und Bildungsprojekt im Rahmen von Büro trafo.K "transnationalen Geschichtsbildern zur NS-Vergangenheit" im Brigittenauer Gymnasium in Wien nach. Ausgangspunkt war die Kritik an der Monoperspektivität von Geschichtsvermittlung und das Ziel, gemeinsam mit Schüler_innen historische Positionen ins Blickfeld zu rücken, die in der Öffentlichkeit oft marginalisiert werden.
Im Rahmen des Projekts erarbeiteten die Jugendlichen sieben Recherchefragen, die jeweils ihre eigenen Hintergründe, Interessen und Erfahrungen ausdrücken. So wurde unter anderem gefragt: Welche Rolle spielte die Türkei im Zweiten Weltkrieg? Was löste den Balkankrieg in den 1990ern aus und welche Verbindungen gibt es zum Zweiten Weltkrieg? Wer profitierte von den Arisierungen? Wie geht die Gesellschaft seit dem "Dritten Reich" mit Homosexualität um? Welche Ausdrucks- und Organisationsformen nimmt Rechtsextremismus in Österreich an?
Die Fragen fanden in verschiedenen Formen – Audiobeiträge, Videos, Diashows, Plakate – Eingang in die Ausstellung der Holocaust-Gedenkstätte Karajangasse, die sich ebenfalls im Gebäude des Gymnasiums befindet. Die Schule war eine der ersten in Wien, die sich mit der eigenen nazistischen Vergangenheit – ein Teil des Gebäudes war 1938 zum Gestapo-Gefängnis umfunktioniert worden – und der Vertreibung ihrer über 350 jüdischen Schüler_innen auseinandersetzte.
Die agonistische Kontaktzone
Mit der Absicht "Geschichtsbezüge [zu] pluralisieren [...], ohne dabei wiederum Differenzen zu reproduzieren", greift Sternfeld auf den Begriff der "Contact Zones" zurück, mit dem sie sowohl Klassenzimmer als auch Ausstellungsräume als "geteilte Räume des Aufeinandertreffens" definiert. Das von der postkolonialen Theoretikerin Mary Louise Pratt entwickelte und vom Anthropologen James Clifford auf ethnografische Museen angewendete Konzept ermögliche es, sowohl ungleiche Machtverhältnisse anzuerkennen als auch Handlungsmacht zu schaffen.
Die Autorin führt den Begriff der Kontaktzone mit dem Konzept des Agonismus´ in den Demokratietheorien von Chantal Mouffe zusammen. Im Gegensatz zum Antagonismus stehen sich Menschen im Agonismus nicht als Feind_innen, sondern als Gegner_innen gegenüber. Laut Mouffe wird der Konflikt damit "domestiziert", es entstehe ein "konfliktualer Konsens".
Sprachdiktat
Die Kontaktzone ist für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust von besonderer Bedeutung, da sich dieser laut Sternfeld zu einem "staatlich verordneten Thema" entwickelt habe, "dem sein kritisches Potential innerhalb vorgegebener nationaler Erinnerungskulturen abzuringen ist". Das dadurch oft reproduzierte "sozial erwünschte Sprechen" könne nur in einem Raum aufgebrochen werden, der ehrliche und respektvolle Diskussionen und Widersprüche zulässt. In diesem Zusammenhang machte die Autorin eine interessante Beobachtung: Offenen und expliziten Antisemitismus hatte sie während der Projektdurchführung primär von Seiten dominanzkultureller Jugendlicher erlebt. Sozial erwünschtes Sprechen sei womöglich bei migrantischen - vor allem muslimischen - Jugendlichen stärker ausgeprägt. Migrant_innen wären im Alltag mit so vielen Vorurteilen, zum Beispiel dem des Antisemitismus´, konfrontiert, dass sie bei der Diskussion im Klassenzimmer auf keinen Fall negativ auffallen wollten, so Sternfelds vorsichtige Interpretation.
Unter der Oberfläche
Die agonistische Kontaktzone erweist sich laut Sternfeld als unabdingbar, um in der Vermittlungsarbeit unter die diskursive Oberfläche zu dringen: "Denn nur wenn Antisemitismus nicht als Vorwurf und nie wieder gutzumachender Fehler behandelt wird, sondern als diskriminierender Diskurs, der hinterfragt werden kann und muss, wird dieser auch bekämpf- und verlernbar."
Der Zugang des Projekts erzielte Erfolge. Die anfängliche Abwehrhaltung einiger Schüler_innen – zurückzuführen unter anderem auf den schulischen Kontext, auf moralisierende Diskurse und die Angst, etwas Falsches zu sagen – wich meist dem Wunsch, "Geschichte zu erfahren und zu aktualisieren". Strategien dezentralen Lernens ermöglichten einen Wissensaustausch auf Augenhöhe, in dem auch die Schüler_innen als Expert_innen agierten. Für Sternfeld ist die größte Errungenschaft, "dass alle Beteiligten Fragen entwickelten, die etwas mit ihnen zu tun hatten [...]. So gelang es im Projekt, uns anhand der Fragen der Schüler_innen dem, was geschehen ist, anzunähern, um gemeinsam darüber zu verhandeln was dies für die Gegenwart bedeutet".
Ob auch jüdische Schüler_innen und Vermittler_innen in diesen Annäherungen und Verhandlungen involviert waren, geht aus dem Buch leider nicht hervor. Das überrascht, zumal die Autorin an anderer Stelle selbst auf die Wichtigkeit von Sprecher_innenpositionen im Kontext der Vermittlungsarbeit verweist.
Die Frage nach den Möglichkeiten schulischen Holocaust-Gedenkens verliert trotz – oder gerade wegen – der Auffassung, das Thema sei bereits ausreichend aufgearbeitet worden, nicht an Aktualität. So beschäftigt sich auch die Soziologin Karin Weimann in ihrem pädagogisch-politischen Buch "Sisyphos´ Erbe" (Lichtig Verlag, 2013) mit den Widerständen und Konflikten von Schüler_innen im Kontext der Erinnerungsarbeit.
AVIVA-Tipp: Die am Buchdeckel als "Instrumentarium für eine aktuelle Geschichtsvermittlungspraxis" bezeichnete Publikation erweist sich eher als Plädoyer für eine solche. Sternfelds stringente Argumentation basiert dabei auf der Zusammenführung oft getrennt behandelter theoretischer Ansätze und überzeugt durch den Bezug auf ihre Praxiserfahrungen, die weit über die vorgestellte Studie hinausgehen. Schade nur, dass die konkreten Ergebnisse aus der Projektarbeit und die Stimmen der Schüler_innen dennoch zu kurz kommen.
Zur Autorin: Nora Sternfeld, geboren 1976 in Wien, ist Kunstvermittlerin und Kuratorin und Professorin an der Aalta University in Helsinki und leitet einen Masterlehrgang für Ausstellungstheorie und Praxis an der Universität für Angewandte Kunst Wien sowie Mitbegründerin von Büro trafo.K – das seit 1999 an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an der Schnittstelle von Bildung und Wissensproduktion arbeitet – sowie Vorstandsmitglied der IG Bildende Kunst. Für "Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung" wurde Sternfeld mit einem Würdigungspreis der Akademie der bildenden Künste Wien und mit einem Award of Excellence des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ausgezeichnet.
Nora Sternfeld im Netz: www.norasternfeld.tumblr.com
Buchvorstellung und Diskussion mit der Autorin und der Kuratorin und Kunstvermittlerin Sophie Goltz
8. Juli 2013, 21.00 Uhr
Veranstaltungsort: b-books, Lübbenerstr. 14, 10997 Berlin.
Nora Sternfeld
Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft
Zaglossus Verlag, erschienen Februar 2013
Softcover, 260 Seiten
ISBN 9783902902023
19,95 Euro
www.zaglossus.at
Weitere Informationen finden Sie unter:
Büro trafo.K – Projekt "Und was hat das mit mir zu tun?"
Gedenkstätte Karajangasse
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