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Beitrag vom 14.06.2013
Yoko Tawada - Mein kleiner Zeh war ein Wort. Theaterstücke
Claire Horst
Wörter als reines Rohmaterial, aus dem sich Aussagen zusammenbauen lassen: Diese pragmatische Sicht auf die Sprache teilt Yoko Tawada nicht. Ihre Texte machen deutlich, dass jedes Wort mehr als ...
... eine Bedeutung hat, dass es sich lohnt, beim Schreiben innezuhalten und nachzuhören, was eigentlich noch alles in diesem Begriff oder jener Wendung steckt.
Vielleicht hängt diese sprachliche Sensibilität damit zusammen, dass Tawada in zwei Sprachen schreibt. In einem Interview sagte sie einmal: "Wenn ich auf Deutsch schreibe, vergesse ich Japanisch, das heißt ganz feine Gefühle, sprachinnerliche Gefühle, die ja komplizierter, komplexer sind als die Grammatik, gehen verloren. Und daher verliere ich Japanisch, während ich Deutsch schreibe, und dann muss ich das wiedergewinnen. (...) Das klingt für die ganz sesshaften Menschen, die nur eine Identität haben, vielleicht etwas defekt, etwas verschoben oder komisch, aber genau das ist es, was uns, also Menschen, die mit mehreren Sprachen zu tun haben, interessiert. Und das kann man gewinnen dadurch, dass man kein absolutes Vertrauen zu einer einzigen Sprache hat."
Was bedeutet es eigentlich für meine Wahrnehmung der Dinge, wenn ein Objekt einen Artikel, also ein Geschlecht hat? Wenn mein Körper zu einem hohen Prozentsatz aus Wasser besteht, werde ich dann Europäerin, wenn ich genug europäisches Wasser getrunken habe? Mit derlei Fragen nach Sprache und Identität beschäftigten sich schon die ersten Texte der vielfach ausgezeichneten Autorin.
In Tawadas Hausverlag Konkursbuch ist jetzt eine Sammlung von zwölf Theaterstücken erschienen, die teilweise schon auf Theaterfestivals aufgeführt wurden, das älteste bereits 1993. Einige davon richten sich an Kinder und Jugendliche – wie alle ihre Texte haben aber auch diese vermeintlich einfachen Stücke eine philosophische Ebene, die die Leserin ins Grübeln bringen kann. Was bedeutet die Kranichmaske, die ein Schauspieler in einem Stück auf- und wieder absetzt? Wofür steht eine Diskussion darüber, ob nun lieber der Schreibtisch oder der Kleiderschrank gegessen werden soll? Welche Bilder entstehen in meinem Kopf, wenn ich das Gehörte nicht übertragen kann? Was bedeutet es für meine Rezeption, wenn ich die Gestalten aus der japanischen Mythologie nicht kenne, die in einigen Texten auftauchen? Eine eindeutige Auflösung gibt es nicht.
Auf die Spitze getrieben wird diese Unlösbarkeit in dem Stück "Till", das sich – nicht überraschend bei der promovierten Literaturwissenschaftlerin Tawada – natürlich auf Till Eulenspiegel bezieht. Laut Regieanweisungen muss das in Niedersachsen spielende Stück zweisprachig aufgeführt werden: Die deutsch sprechenden Personen kommen aus dem Mittelalter, die japanisch sprechenden sind TouristInnen. Wie diese Figuren verstehen auch die meisten ZuschauerInnen nur die Hälfte, bleibt immer ein unverständlicher Rest. Anders als die Theaterbesucherin kann die Leserin die Übersetzung lesen – fraglich ist nur, ob das zum Verständnis des Werkes beiträgt. Denn es ist gerade die Unübersetzbarkeit, die Rätselhaftigkeit, die Tawada am meisten interessiert.
Mit interkulturellen Missverständnissen hat das allerdings weniger zu tun. Denn die Schwierigkeit, Bedeutungen zu erfassen, die Sprache so einzusetzen, dass die anderen mich verstehen, besteht immer, unabhängig von der Sprache. Und selbst innerhalb einer einzigen Person gibt es unterschiedliche Stimmen mit unterschiedlichen Zielen und Prägungen – in Tawadas Stück "Schwarzeis" sprechen dann auch "Vier Stimmen in einer Frau", bezeichnet mit den Zahlen 1 bis 4.
AVIVA-Tipp: Tawada zu lesen, ist anstrengend und zugleich ein ästhetisches Erlebnis. Ihre Texte erfordern hohe Konzentration. Wenn die gegeben ist, ist es sehr anregend, ihr auf verschlungenen assoziativen Pfaden von einer Eingebung zu nächsten zu folgen. Zu diesem Erlebnis trägt auch die grafische Umsetzung durch den Verlag bei: Neben zahlreichen farbenfrohen Illustrationen finden sich auch Zeichnungen und mehrfarbige Schrift.
Zur Autorin: Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt in Berlin. Studium der Literaturwissenschaften in Tokyo und Hamburg, Promotion. Erste literarische Veröffentlichungen 1986 in "Japan-Lesebuch". Erste Buchveröffentlichung in Deutschland 1987 ("Nur da wo du bist da ist nichts"), in Japan 1992 ("Sanninkankai"). Sie schreibt in deutscher und japanischer Sprache. Bis 2013 erschienen 22 Bücher in deutscher Sprache. Sie wurde in Japan und Deutschland mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. (Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: yokotawada.de
Yoko Tawada
Mein kleiner Zeh war ein Wort. Theaterstücke
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, erschienen März 2013
320 S., Klappenbroschur mit Fadenheftung, viele farbige Bildelemente
ISBN 978-3-88769-781-5
15 Euro
Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks
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Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland herausgegeben von Immacolata Amodeo, Heidrun Hörner, Christiane Kiemle