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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 17.05.2013


Verlassene Orte / Lieux Délaissés. Fotografien von Sarah Hildebrand. Mit Texten von Jessica Backhaus und Klara Tuszynski
Veronika Siegl

Wer kennt es nicht, dieses Gefühl? Dieses Gefühl, das sich aus einer Mischung aus Unbehagen, Intimität und Neugier zusammensetzt, wenn der Blick fast voyeuristisch durch die Wohnung unbekannter...




... Personen streift. Was darf gesehen, wo hingeschaut, wie lange und intensiv etwas betrachtet werden? Es ist dieses Gefühl, das eine/n beim Durchblättern von Sarah Hildebrands Fotoband heimsucht.

Was diese Orte kennzeichnet, ist nicht nur, dass sie – wie auch ihre BewohnerInnen – den Betrachtenden unbekannt sind. Im Vordergrund der Arbeiten steht vor allem das Thema des Zurücklassens. "Leere verlassene Räume, Zwischenorte. Jemand ist für immer gegangen oder wird wieder zurückkommen. In der Zwischenzeit mache ich meine Aufnahmen, fotografiere die Spuren von jemandem, der/die ab- und dennoch anwesend ist", schreibt die Künstlerin, die zehn Jahre lang für das vorliegende Buch recherchierte und fotografierte.

Spuren suchen

Das Eck eines goldenen Spiegels, links unten eine blasse Schwarzweiß-Fotografie, ein Haus und Bäume sind schemenhaft zu erkennen. Die Reflexion des Spiegels erlaubt einen Blick in das Zimmer. Alte Holzmöbel, eine hohe weiße Tür, ein Bild, eine gemusterte Blumentapete. Vieles ist gemustert in diesen Räumen. Teppiche, Polster, Kacheln, Decken, Tischtücher. Ein zweites Foto – Der Blick vom Bettende auf ein Bett, zerwühlte Laken und Kissen kontrastieren mit der altrosa Tapete (ist es dieselbe?). Auf dem kleinen Holztisch daneben eine Stehlampe, goldener Fuß mit altrosa Schirm, letzteres in leichter Schieflage.

Imaginieren

Andere der quadratischen Aufnahmen zeigen Kinderspielzeug, Schmuck, Schatullen, Postkarten, Waschlappen, Geschirr. Hier müssen eben noch Menschen gewesen sein. Wann werden sie wiederkommen? Wer sind sie, was sind ihre Geschichten? Wissen sie, dass ich – als Betrachterin – hier bin? Unmöglich ist es, sich diesen Fragen zu entziehen, sie drängen sich geradezu auf. Denn die Ausschnitte und Details aus diesen Wohnungen möchten in Kontext gesetzt werden, in der Fantasie werden die am Bildrand abgeschnittenen Möbelstücke vervollständigt, die Tapeten weitergezeichnet, der Blick nach links und rechts gewendet. Die Fragen verlangen keine eindeutigen Antworten, sie erlauben mehrere. "Suggestion, Heraufbeschwörung und Imagination“ verbindet die Kunsthistorikerin Klara Tuszynski mit den Fotografien. In ihrem Beitrag zum Bildband schreibt sie: So wie die Kulissen eines Theaters oder der Rahmen einer leicht unheimlichen Geschichte müssen diese Orte bevölkert werden: Man wartet auf den Auftritt der Akteure, damit der Handlungsfaden gesponnen werden kann.“

Erinnern

Ein "von Nostalgie geprägtes Universum" entfaltet sich in diesen Darstellungen, so Tuszynski. Tatsächlich scheinen die Räume von einer anderen Zeit zu erzählen. Die Waschschüssel, der abgenutzte Stuhl, von der Wand gebröckelte Farbe. Eine gewisse Traurigkeit breitet sich aus. Melancholie. Der Gedanke an den Tod oder eine plötzliche Flucht. Werden diese Personen je zurückkehren? "Jede Fotografie ist wie ein einziges Puzzlestück, das ein vergangenes Leben widerspiegelt." schreibt die Fotografin Jessica Backhaus in der Einleitung zum Buch. "Was bleibt? Ein Hauch der Erinnerung."

AVIVA-Tipp: Eine wunderbare Serie von Fotografien verwaister Räume und Dinge, die in der Interaktion mit den Betrachtenden zum Leben erweckt werden und ihre Geschichten erzählen. Geschichten anderer – vergangener? – Leben verknüpfen sich durch das Spiel mit Imagination und Erinnerung auf intime Weise mit dem eigenen Erlebten und Gefühlten.

Zur Fotografin:

Sarah Hildebrand
, geboren 1978 in Genf, lernte an der Haute Ecole d’art et de design (HEAD) in Genf und bei der Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg. Die zweisprachige Künstlerin versteht sich als Forscher-Sammlerin, Themen der individuellen und Gruppenidentität ergründend. Ihre Projekte haben sie u.a. bereits nach Japan, Süd-Korea, China, Russland und in die Mongolei geführt, zurzeit lebt und arbeitet sie in Köln und Hamburg. Ihr Werk umfasst Fotografien, Zeichnungen und Novellen. (www.sarah-hildebrand.com)

Zu den Autorinnen:

Jessica Backhaus
, geboren 1970 in Cuxhaven, aufgewachsen in Berlin, zog mit siebzehn Jahren nach Paris, wo sie Fotografie und visuelle Kommunikation studierte und ihre Mentorin Gisèle Freund kennenlernte. Später übersiedelte sie nach New York, wo sie viele Jahre lebte. Jessica Backhaus zählt zu den bedeutendsten deutschen FotografInnen, hatte Ausstellungen u.a. in der National Portrait Gallery (London) und dem Martin-Gropius-Bau (Berlin). (www.jessicabackhaus.net)

Klara Tuszynski, geboren 1980 in Warschau, kam mit ihren Eltern Anfang der 1980er-Jahre nach Genf und studierte Kunstgeschichte in Straßburg. Nach einigen Jahren im Ausland arbeitete sie anschließend in einer Galerie in Genf. Sie ist Autorin zahlreicher Aufsätze über moderne KünstlerInnen und schreibt zurzeit an einer Forschungsarbeit über Kunst des 18. Jahrhunderts.

Sarah Hildebrand
Verlassene Orte / Lieux Délaissés

Mit Texten von Jessica Backhaus und Klara Tuszynski
Kehrer Verlag, erschienen 2013
Festeinband, 80 Seiten, 54 Farbabbildungen. Texte auf französisch und deutsch
ISBN: 9783868283815
36,00 Euro
www.kehrerverlag.com

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Gisèle Freund. Photographien und Erinnerungen, darunter "One day in November". Fotografien von Jessica Backhaus

Sibylle Bergemann - Die Polaroids


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Beitrag vom 17.05.2013

AVIVA-Redaktion