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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.11.2012


Marica Bodrozic - Kirschholz und alte Gefühle
Kristina Tencic

Nach dem Erfolg von "Das Gedächtnis der Libellen" widmet sich die im ehemaligen Jugoslawien geborene Autorin mit der ihr eigenen Syntax im zweiten Teil ihrer Trilogie dem Erinnern und Vergessen.




Vögel haben kein Zuhause. Vögel bewohnen alle Länder und wissen doch nicht, was unter ihnen geschieht. Sie schweben in einer Parallelwelt, fabelhaft, himmlisch leicht. Und doch picken die wilden Vögel Arjeta in die Stirn. Sie lassen sie einfach nicht vergessen.

So sehr es die Protagonistin in Marica Bodrozic´s Roman "Kirschholz und alte Gefühle" doch immer wieder versucht, sie kann ihre Vergangenheit nicht von sich weisen, kann die Menschen, Länder und Erlebnisse nicht einfach zu Gedächtnislücken werden lassen. Denn da ist noch der Tisch, das einzige was Arjeta von all den Lebensabschnitten und Aufenthaltsorten geblieben ist.

"Ich gehe in die Küche und setzte mich an Großmutters alten Kirschholztisch. Ich betrachte ihn. Er macht mich glücklich. Wenn er ein Gedächtnis hat und meine Theorie aus der Kindheit stimmt, muss ich ihn nur an einer Stelle mit dem Messer anritzen. Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, wird mit allem herausrücken, mit allem, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat."

Seit fünf Jahren lebt Arjeta nun in Berlin, doch erst mit dem Beziehen ihrer eigenen Wohnung beginnt der aufwühlende Prozess des Ankommens. Mithilfe der alten Fotos, die nun ausgebreitet auf dem alten Holztisch liegen, zeichnet sie innerhalb von sieben Tagen ihre Vergangenheit nach. Angefangen in Sarajewo, die sie nur die "belagerte Stadt" nennt, in der ihre Zwillingsbrüder von einer Landmine getötet wurden, wo ihr Vater starb und ihre Mutter den Krieg über ausharrte. Über ihre Kindheitserinnerungen an glückliche Sommer bei ihrer Großmutter in Istrien, bis hin zu ihrer Studienzeit in Paris.

Diesen Lehr- und Wanderjahren in Paris widmet sich die in Dalmatien geborene Autorin sehr ausführlich. Sie sind grundlegend für ihren Hauptcharakter, nicht etwa wegen des unvollendeten Philosophiestudiums, sondern angesichts Arjetas selbstzerstörerischer Liebesbeziehung zu dem Fotografen Arik. Paris ist jedoch auch die Stadt, in der sie ihre lebenslangen Freundschaftsbande knüpft. So etwa zu der Japanerin Hiromi, von der sie das Nähen lernt (was ihr später in Berlin zum Beruf wird), und wo sich auch ihre enge Freundin Nadeshda befindet. Mit der Physikerin hat sich Marica Bodrozic in ihrem vor zwei Jahren erschienenen ersten Teil ("Das Gedächtnis der Libellen") ihrer Trilogie vorrangig auseinandergesetzt.

Die krassen Gegensätze zwischen der kriegsverzerrten Heimat, wo die Mutter mit menschlicher Hirnmasse auf den Straßen konfrontiert wird, und der heilen Welt in Paris, wo sich viele am Krieg gar bereichern, versetzen Arjeta in einen tranceartigen Zustand. Nur Gedanken scheinen noch von Bedeutung zu sein und die Transitexistenz, Rastlosigkeit und Suche wird zur Gemeinsamkeit aller erstaunlich blass bleibenden Figuren. Die Stärke der Autorin liegt indessen in ihrer eigenwilligen und bedeutungsschwangeren Syntax, die oft nur ein Wort beinhaltet und doch lange nachwirkt. Ihre Reflexion gipfelt etwa in der zentralen sowie rhetorischen Frage: "Aber. Wie. Leben. Wir. Wenn. Wir. Nicht. Nur. Etwas. Oder. Jemand. Überleben."

In einem sehr sinnbildlichen siebentägigen Reinigungsprozess findet die entwurzelte Arjeta endlich zu ihrer inneren Ruhe. Die Leere der Wohnung, die Wärme des Kirschholztisches, das Flügelschlagen der Schwalben vor dem Fenster – all diese Elemente werden zu Prämissen für ihr Erinnern, mit dem sie das Vergessen erlernen will.

AVIVA-Tipp: Zwischen Metaphysischem und Realem, Verlebtem und Gegenwärtigem springt Marica Bodrozic fast lautlos hin und her, um ihre Erinnerungslücken zu schließen und aufbegehrende Satzzeichen gegen das Vergessen zu setzen. Mit ihrem erfrischend freigeistigen Stil schreibt die Berliner Autorin sehr sinnlich über Entwurzelung und Ankunft, Liebe und Schmerz, und darüber, was es heißt, mit (Schuld-)Gefühlen leben zu müssen. Ihre lyrische Prosa lässt uns in Bewusstseinsströmungen tauchen, die noch lange nachhallen.

Zur Autorin: Marica Bodrozic wurde 1973 in Svib, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren kam sie nach Deutschland, in den Taunus, wo ihre Eltern sich bereits vor ihr als sogenannte GastarbeiterInnen angesiedelt hatten. Diese Entwurzelung ist bis heute in ihren zahlreichen Gedichten, Romanen, Erzählungen und Essays präsent. Für ihre Werke erhielt sie diverse Preise und Stipendien, unter anderem den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin und den Kulturpreis Deutsche Sprache. Nach Studienaufenthalten in Zürich, Frankfurt am Main und Paris, lebt die freie Schriftstellerin seit über zehn Jahren in Berlin.

Marica Bodrozic
Kirschholz und alte Gefühle

Verlag Luchterhand Literaturverlag, September 2012
Gebundes Buch mit Schutzumschlag, 224 Seiten
ISBN: 978-3-630-87395-4
19,95 Euro
www.randomhouse.de

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(Quellen: Luchterhand Literaturverlag, Freitag, deutschlandradio)



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Beitrag vom 20.11.2012

Kristina Tencic