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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.10.2012


Sarah Diehl - Eskimo Limon 9
Fabian Wolff

Es gibt Geschichten, von denen können die Deutschen nicht genug bekommen. Geschichten über die Tragik, vom Dorf zu kommen. Darüber, wie aufregend es ist, mal mit Ausländern zu reden, oder ...




... generell aus seiner Komfortzone zu treten, wenn man nur abends wieder nach Hause darf.
Darüber, dass die wahren Opfer des Holocausts schon irgendwie die Deutschen selbst sind, weil sie heute nichts mehr dürfen, obwohl ja noch nicht mal alle mitgemacht haben. Darüber, wie schwer man am Schicksal zu tragen hat, immer auf der richtigen Seite stehen zu müssen. Sarah Diehls Debutroman "Eskimo Limon 9", das wird nach wenigen Seiten klar, erzählt eine ganz andere Geschichte.

Eine Art Privatdiaspora: Die israelische Familie Allon – Mutter Ziggy, Vater Chen, der elfjährige Sohn Eran – zieht von Tel Aviv in den hessischen Ort Niederbrechen. Chen hat eine Stelle als Informationstechniker im nahen Frankfurt (am Main) angenommen und muss sich nun im deutschen Firmenalltag zurechtfinden. Seine Frau Ziggy währenddessen betrübt der Alltag ohne echte Beschäftigung. Sie freundet sich mit dem selbsternannten Dorfzausel Koffel an und vergräbt sich ansonsten in israelischer Popkultur – unter anderem der "Eskimo Limon"-Reihe, die in den Achtzigern zum Filmexportschlager wurden und auch in Deutschland als "Eis am Stiel" viel Erfolg hatten. Und Eran hat eigentlich schon genug damit zu tun, kurz vor der Pubertät zu stehen und muss jetzt plötzlich Fragen seiner Mitschüler*innen nach Vergasungen und dem Geburtsort vom "Herrn Jesu" beantworten. In den Augen der Ortsgemeinschaft erreichen die drei gleich dreifach Höchstwerte auf der Fremdheitsskala: Als Ausländer, Israelis und Juden werden sie zur Projektionsfläche für vergrabene Ängste, Vorurteile und Komplexe.

"Eskimo Limon 9" ist kein Plotroman, sondern ein Buch der Momente, Ideen und Exkurse. Es geht um viel – um Klischees, um Jugendideale, um Punk und Metal und Grand Prix, um weibliche Ejakulation. Und tatsächlich um Israel, Deutschland und die Shoah. Wenn das alles zusammen nicht funktionieren würde, man könnte von der Debütromankrankheit sprechen. Weil es das aber tut, kann man nur staunen und sich freuen.

Spielt es dabei eine Rolle, dass Diehl nicht jüdisch ist? Vielleicht. Sich echt anfühlende Geschichten über Juden in Deutschland von nichtjüdischen Autor*innen sind selten.
Stattdessen gibt es ungezählte Bücher, in denen irgendwelche befremdeten Deutschen zum ersten Mal Juden begegnen und beschämt und bezaubert zugleich sind. Ohne deutsche Identifikationsfigur und umfangreiches Glossar im Anhang ("Was ist eigentlich ein Goj?") geht es nicht. Mag sein, dass das für nichtjüdische Leser*innen diese Ausflüge in den Hebräerzoo spannend und kathartisch sind, für Juden sind sie meist einfach nur eine Zumutung. Gelegentlich gibt es Ausnahmen wie "Die Ausgewanderten" von W.G. Sebald, die aber inzwischen auch schon wieder zwanzig Jahre her ist.

Auch "Eskimo Limon 9" ist so eine Ausnahme. Das große Thema des Romans und Diehls Arbeit ist Identitätszuschreibung und Fremdbestimmung. Da würde es nicht passen, wenn Diehl sich einfach 320 Seiten die literarische Judenmaske aufsetzt und so tut, als ob. Das Buch ist trotzdem glaubhaft aus einer explizit israelisch-jüdischen Perspektive erzählt.
Sieben Jahre lang hat Diehl an ihrem Roman gearbeitet. Den Anstoß dazu gaben viele Begegnungen mit Israelis in Berlin und ein gewisses Gefühl der "Unsicherheit", das Diehl an sich selbst bemerkte. Doch statt in dieser Unsicherheit zu verharren und eben eine jener "Oha, Juden"-Stories zu erzählen, hat sie Limonade aus Beklemmungszitrone gemacht. "Eskimo Limon 9" ist eben auch ein akkurat recherchiertes Buch, ohne eine arrogante anthropologische Studie der Spezies homo israelicus zu sein.

Bisher hat sich Sarah Diehl vor allem als Dokumentarfilmerin zu Abtreibungsrechten (auch so ein Thema über Fremdbestimmung) einen Namen gemacht. So baut ihr "Abortion Democracy" auf der Erkenntnis auf, dass illegale Abtreibungen in Polen zugänglicher sind als legale in Südafrika, um dann zu untersuchen, was das für betroffene Frauen in beiden Ländern bedeutet.
Auch "Eskimo Limon 9" zeichnet sich dadurch aus, Dinge einfacher und damit komplizierter zu machen. Das wird an der Rolle von Popkultur im Roman deutlich. Nur ein Beispiel von vielen: Eran mag die Filme von Amos Guttman. Guttman hat 1982 "Nagu´a" gedreht, dem ersten schwulen Films Israels. Die Hauptrolle in "Nagu´a" spielt Jonathan Sagall – der als einer der Stars der "Eskimo Limon"-Reihe bekannt wurde, nach der das Buch ja benannt wurde. Auf jeder Seite finden sich solche wunderbar komplizierten Querbezüge, die aber nie für sich selbst stehen, sondern immer die Figuren und Geschichten vertiefen.

Irgendwie ist "Eskimo Limon 9" auch ein Dorfroman, ohne einer zu sein. Diehl ist im Kneippkurort Bad Camberg aufgewachsen, das wie Niederbrechen im Landkreis Limburg-Weilburg liegt. Sie kennt die Gegend also. In Berlin hat sie Afrikawissenschaften, Gender Studies und Museologie studiert und festgestellt, dass das behauptete Stadt-Land-Gefälle zu großen Teilen Blödsinn ist. Auch im Roman leben die Figuren ein angeschlossenes Leben. Sie leiden nicht am Dorf, sondern an der Provinz Deutschland. Der Altlinke Koffel, der seinen Außenseiterstatus im Ort genießt, glaubt fest an ein anderes Deutschland, und findet es bei Böll, Borchert und Fassbinder. Und Florian, der vertrottelte Neonazi, malt Niederbrechen mit Hakenkreuzen zu – die leider spiegelverkehrt sind.

"Eskimo Limon 9" ist tatsächlich witzig, was ja bei einem deutschen Buch keine Selbstverständlichkeit ist. Die meisten Pointen sitzen, auch gewagtere Spitzen über amerikanische Juden, die alija machen und statt Darren plötzlich Doron heißen. Es gibt eine ganze Reihe perfekter Sätze. So wundert sich der Lehrer Renner, dass ihn der Film "Auf Wiedersehen, Kinder" so bewegt: "Und warum war er so traurig? Weil es um Juden ging." In dieser einen Äußerung steckt eigentlich alles über das passiv-aggressiv Verhältnis, das vermeintlich geschichtsbewegte Deutsche zu Juden haben.

Diehl hat ein Buch der stillen Wut geschrieben. Und wenn einem jüdischen Leser viele Details der deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Begegnungen im Roman bekannt vorkommen, dann vor allem, weil man sie eben aus dem Alltag kennt. In dieser Klarheit in einem Buch gelesen hat man sie aber noch nicht. Dass Diehl dabei selbst, wie sie sagt, eine von den "unsicheren Deutschen" ist, kommt sehr gelegen. Maxim Biller, der harte Hund, würde sich schließlich für solche Befindlichkeiten kaum interessieren.

Am Ende entschließt sich eine der Hauptfiguren, zurück nach Israel zu gehen und fragt sich, ob El Al eigentlich auch am Schabbat fliegt. Kurz darauf der Schreck über diese ziemlich doofe und ziemlich deutsche Frage – als ob es da einen Zweifel gäbe. Dabei, und das verschweigt der Roman mit Absicht, fliegt El Al nicht am Schabbat, säkulare israelische Identität hin oder her. "Eskimo Limon 9" gibt eben keine Antworten, sondern stellt nur Fragen und zeigt, wie kompliziert die Dinge sind. Es ist ein bemerkenswertes deutsches Buch über Juden und Israel. Es bleibt allein der nagende Trübsinn, dass es die Ausnahme bleiben wird, die die Regel bestätigt.

Zur Autorin: Sarah Diehl, geboren 1978, lebt als Publizistin und Filmemacherin in Berlin und hat dort Museologie, Afrikawissenschaften und Gender Studies studiert. Sie arbeitet zum Thema reproduktive Rechte im internationalen Kontext, hat hierzu bereits zwei Anthologien herausgebracht und einen preisgekrönten Dokumentarfilm gedreht: Abortion Democracy: Poland / South Africa. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Dokumentarfilm Pregnant Journeys und an ihrem nächsten Roman. (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Infos unter: twitter.com/SahraDiehl und www.abortion-democracy.de

Sarah Diehl
Eskimo Limon 9

Atrium Verlag, erschienen 24. September 2012
320 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag
Euro 19,95
ISBN: 3-85535-071-X
ISBN-13: 978-3-85535-071-1

Diese Rezension von Fabian Wolff ist unter dem Titel "Gestrandet in der Provinz" in der Wochenzeitschrift Jüdische Allgemeine, Ausgabe vom 11.10.2012, 41/2012 erschienen und wurde AVIVA-Berlin freundlicherweise zur Verfügung gestellt.



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Beitrag vom 25.10.2012

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