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Beitrag vom 30.08.2012
Michèle Minelli - Die Ruhelosen
Dana Strohscheer
Schlüpflinge selbst unterteilt man in zwei Gruppen: Nestflüchter und Nesthocker. Nestflüchter sind vom ersten Tag an imstande, die Füße zu gebrauchen." Auch wenn die Einteilung sich eigentlich...
... auf Vögel bezieht, lassen sich diese Eigenschaften auch auf die ProtagonistInnen im Roman der Schweizer Autorin übertragen.
Denn was als thematische Klammer im zweiten Teil der "Ruhelosen" fungiert, trifft auch auf die Figuren der Erzählung zu - es geht um Aufbruch, ob freiwillig oder unfreiwillig, um Flucht, und immer wieder darum, schnell Entscheidungen zu fällen und auf eigenen Füßen stehen zu müssen, manchmal schon als Kind.
Epochenschilderung und Charakterstudie zugleich
Dies alles vereint Michèle Minelli auf knapp 750 Seiten zu einem spannenden europäischen Generationen- und Sittenbild. Die Autorin folgt vier verschiedenen Familien über einen Zeitraum von knapp 150 Jahren bis in die Jetzt-Zeit. Alle handelnde Personen vereint, dass sie trotz unterschiedlicher ethnischer Herkunft früher oder später in der Schweiz landen und dort bleiben.
Viele FriseurInnen, PerückenmacherInnen, MusikerInnen und HändlerInnen treten in dem Roman auf und versuchen, ihr Leben in glückliche Bahnen zu lenken. Immer wieder kommt das, was das Leben ist, bei langfristigen Planungen dazwischen – die Liebe fällt dorthin, wo sie gar nichts zu suchen hat, oder Kinder werden geboren, die alles auf den Kopf stellen. Dabei sind die Frauenfiguren durchsetzungsfähiger als die Männer. Oftmals nehmen sie ihr Schicksal in die Hand, auch unter aussichtslosen Bedingungen.
Wie die willensstarke Gräfin Alžbeta Czöke, die entgegen sämtlicher gesellschaftlicher Konventionen der österreichisch-ungarischen Monarchie die große Liebe ihres Lebens heiratet, den jüdischen Perückenmacher Frantisek Schön, und mit ihm vom heimatlichen Gut in Kassa durchbrennt, um ihr Glück in Sopron (Ödenburg) zu suchen.
Liebevoll stattet Minelli ihre ProtagonistInnen mit kleinen Eigenheiten aus. So geht es um die Zubereitungsarten von Speisen oder um Naturverbundenheit und die Erforschung seltener Arten. Angefangen beim alten Grafen Czöke, der um 1860 mitten in Russland mit beiden Beinen in einem Moor steht und den schönsten Schmetterling in natura nur Zentimeter entfernt vor sich sieht: "Tja, da war er nun, Graf Dušan Czöke, übergeschnappt und überglücklich über seinen Fund und kam mit keinem seiner Beine aus dem Bruch heraus." ist das Letzte, was die LeserInnen über den Grafen erfahren. Knapp 150 Jahre später kommt Aude, ihres Zeichens wissenschaftlich ausgebildete Ornithologin und aus derselben Familie stammend, in der mongolischen Wüste in eine ähnliche Situation.
Die Schweiz - ein schwieriges Immigrationsland
Minelli verarbeitet auch die Ängste und Nöte der Menschen zu verschiedenen Zeiten, zeigt die Anstrengungen derer es bedarf, um zu neuen Ufern aufzubrechen und die Heimat hinter sich zu lassen. Ebenso thematisiert sie Traumata, die den Menschen widerfuhren, beispielsweise der sexuelle und gewalttätige Missbrauch von "Verdingkindern" auf Schweizer Bauernhöfen.
Das entscheidende Moment der Erzählung wird gleichsam nebenher verhandelt: Wie sehr ImmigrantInnen das kulturelle und gesellschaftliche Klima der Schweiz immer wieder beeinfluss(t)en und die abweisende Haltung der Einheimischen gegenüber allem Fremden und Neuen. Deutlich wird, wie sehr Neuankömmlinge von behördlicher Seite behindert wurden und werden - so auch osteuropäische Jüdinnen und Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in das Alpenland kamen. Minelli geht ganz beiläufig dahin, wo es weh tut.
Familienchronik macht neugierig
Das Gebilde der Generationen in den "Ruhelosen" ist mitunter verwirrend, sehr hilfreich sind da die Stammbäume im Innenumschlag und Anhang des Buches. Zugleich macht die Vielfältigkeit der Charaktere Lust auf eigene Ahnenforschung, denn der Roman setzt bei den Vorboten der Kriegszeiten ein und wendet sich bewusst gegen die Zeit der "weißen Flecken" europäischer (und damit auch persönlicher) Geschichte. So kann mensch sich fallen lassen in die verschiedenen Ereignisse, was immer wieder eigene Deutungen in Frage stellt.
Zur Autorin: Michèle Minelli, geboren 1968 in Zürich, veröffentlichte mehrere Sachbücher über das Asylland Schweiz, eine Reisereportage und den Roman "Adeline, grün und blau" (2009). Außerdem dreht sie Dokumentarfilme und arbeitet als Dozentin für kreatives Schreiben in Zürich. 2010 erhielt sie von der AutoInnenvereinigung e.V. ein Projektstipendium für den nun vorliegenden Roman, damals noch unter dem Arbeitstitel Zugvögel. Zudem ist sie Mitglied in diversen Verbänden und Vereinen, wie der AutorinnenVereinigung e.V., deren zweite Vorsitzende sie seit August 2011 ist. Minelli lebt und arbeitet in Zürich. Weitere Infos unter: www.mminelli.ch
(Quellen: Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Die Autorin webt in ihrem Roman einen Teppich aus Epochen, Legenden und wahren Geschichten, der die LeserInnen sofort in den Bann zieht. Zugvögel als Sinnbild für die menschliche Suche nach Glück und Geborgenheit - quer durch Europa und die Zeiten. Ein gelungenes Panorama, doch Vorsicht - wer das Buch zur Hand nimmt, legt es so schnell nicht mehr aus selbiger.
Michèle Minelli
Die Ruhelosen
Aufbau Verlag, erschienen im März 2012
Gebunden mit Schutzumschlag, 752 Seiten
ISBN: 978-3351033866
24,99 Euro
www.aufbau-verlag.de
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