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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 28.06.2012


Margarita Chemlin - Die Stille um Maja Abramowna
Dana Strohscheer

Eine junge Frau, die in ihrer kleinen Welt auf der Suche nach dem großen Glück ist. Eine schöne Frau, der die Männerherzen zufliegen und die ihre Gunst gern verschenkt. Eine kluge Frau, die ...




... an die Folgen ihres Handelns denken muss und sich dadurch immer tiefer in Ausreden und Lügen verstrickt. Doch Maja ist nicht nur jung, schön und klug - sie lebt außerdem auch als Jüdin zu Zeiten der stalinistischen Säuberungen in den 1950er Jahren in der Sowjetunion.

Die Handlung des Romans setzt zur Zeit der angeblichen "jüdischen Ärzteverschwörung" ein, der Tausende von MedizinerInnen, Intellektuellen und Parteikadern, vornehmlich jüdischer Abstammung, zum Opfer fielen. Auf direktes Betreiben Joseph Stalins hin wurden damals in sogenannten "Schauprozessen" unzählige Menschen zum Tode oder Lagerhaft verurteilt. In diesen unruhigen Zeiten entdeckt Maja, die Hauptfigur des Romans, die Liebe und "das erste Gefühl" überkommt sie. Maja stammt aus der kleinen ukrainischen Stadt Ostjor, einem Ort, der einmal ein wichtiges Zentrum der jüdischen Kultur war. Nach ihrer Erinnerung "waren praktisch alle leitenden Beamten Juden, und sie arbeiten Hand in Hand mit den anderen Nationen.(...) Und niemand hat sich beschwert."

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, werden Maja und ihre Mutter evakuiert. Als kleines Mädchen sieht Maja bereits "mehr, als ihr gut tut". Die Daheimgebliebenen werden in einer Schlucht unweit der Stadt erschossen und verscharrt. Nach Kriegsende leben Mutter und Tochter in Kiew. Sie beginnen, sich eine Existenz aufzubauen.

Dort verliebt sich Maja später in ihren verheirateten Dozenten, der sich daraufhin von seiner Frau scheiden lassen will. Doch der Eintrag "jüdisch" in Majas Pass führt zu Drohungen seitens der Ehefrau, die diese stellvertretend für die vorherrschende Meinung äußert: "Du bist Jüdin, (...) was das in der jetzigen Situation heißt, weißt Du selbst. Auch auf ihn würde ein Schatten fallen. In Babi Jar liegen massenhaft Mischlinge."

Es ist das erste Mal seit Kriegsende, dass die Protagonistin mit ihrer jüdischen "Nationalität" konfrontiert wird. Sie lernt ihre Lektion. Von da an versucht Maja alles, um ihre jüdischen Wurzeln zu verdrängen und geheim zu halten. Ihr Sohn darf nicht jiddisch sprechen und durch eine erneute Heirat erhalten beide einen ukrainischen Familiennamen. Maja versucht das Leben einer perfekten, sozialistischen Vorzeigefamilie aufrecht zu erhalten, trotz wirtschaftlichem Mangel und der steten Angst vor Repressionen.

Gleichzeitig ist die junge Frau auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung, sucht diese allerdings immer in Kombination mit Männern, die ihr materielle Sicherheit bieten können. Trotz allem romantisch veranlagt, glaubt sie immer noch an die große Liebe. Als Maja zum dritten Mal heiratet, ist es ein jüdischer Mann. Ihre gemeinsame Tochter Ella wächst zu einem sowjetischen "Kaderkind" heran, das den eigenen Eltern hinterher spioniert und diese als jüdisch "enttarnt".

Am Ende muss Maja sich eingestehen, dass sie ihre Identität ebenso wenig abstreifen kann, wie sich den Zwängen des Regimes zu widersetzen.

Mit der Protagonistin entwirft die Autorin nicht das Bild einer sympathischen, lebenshungrigen jungen Frau, sondern ein zutiefst verstörendes Abbild eines traumatisierten Menschen. Wie sehr deren innere Gefühlswelt unter den kindlichen Verfolgungserlebnissen leidet, bleibt latent unter Oberfläche. "Aber darum geht es nicht" - dieser Satz fällt immer wieder an entscheidenden Stellen des Buches, als ob sie sich selbst immer wieder zur Vernunft rufen würde. Majas Handlungen, die auf den ersten Blick hart und berechnend erscheinen, offenbaren eine große Hilflosigkeit. Niemand ist sicher, keinem kann vertraut werden. Das große Schweigen, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht, führt unweigerlich zur persönlichen Katastrophe.

Zur Autorin: Margarita Chemlin, 1960 in Tschernigow in der heutigen Ukraine geboren, studierte am Gorki-Literaturinstitut in Moskau und arbeitete als Journalistin und PR-Managerin. Als Schriftstellerin debütierte sie 2005 mit dem Erzählzyklus "Proschtschanije jewrejki" ("Abschied einer Jüdin") in der Literaturzeitschrift "Znamja" und gilt seither als literarische Entdeckung Russlands. Ein Erzählband über Schicksale sowjetischer Holocaustüberlebender folgte 2008 - "Die Warteschlange" wurde in die Kurzliste des russischen "Großes Buch"-Preises aufgenommen. Sie ist Gewinnerin des "Globus-Preises" und des "Ivan-Petrovich-Belkin-Preises". "Die Stille um Maja Abramowna", ihr erster Roman, war für den russischen "Booker-Preis" 2010 nominiert. Margarita Chemlin lebt und arbeitet in Moskau. (Quelle:Verlagsinformationen)

Zur Übersetzerin: Olga Radetzkaja studierte Slawistik und Komparatistik in Berlin und Moskau. Sie arbeitet als Literaturübersetzerin, Redakteurin und Autorin. Unter Anderem schreibt Radetzkaja Beiträge für die Zeitschrift "osteuropa".

AVIVA-Tipp: Atmosphärisch dicht und in schnörkellosen Sätzen lässt die Ich-Erzählerin ihr Leben Revue passieren. Mit "Die Stille um Maja Abramowna" verleiht Margarita Chemlin der ukrainischen Nachkriegsgeneration eine ganz eigene Stimme. Eindrucksvoll schildert sie, wie schwer die Traumata der Kriegsjahre wirkten, wie tief der Antisemitismus verankert ist und wie atomisiert sich die Gesellschaft auf Grund der steten Verfolgung durch die Sowjetmacht darstellte. Die lakonische, unterkühlte Sprache verstärkt immer wieder die Momente des Schreckens, aber auch der (Tragi-)Komik.

Margarita Chemlin
Die Stille um Maja Abramowna

Originaltitel: Klocvog
Aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen im April 2012
Gebunden, 300 Seiten
ISBN-10: 3633542574
ISBN-13: 978-3633542574
24,95 Euro
www.suhrkamp.de

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