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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 01.06.2012


Jane Urquhart - Der Schmetterlingsbaum
Dana Strohscheer

"Schauen Sie aus dem Fenster." Mit diesen ersten Worten lädt Liz Crane zu einem Blick über die alte Obstplantage ihres Onkels ein. Sie befindet sich an den Ufern des kanadischen Erisees, wo Liz...




...das Wanderverhalten des Monarchfalters erforscht.

Dieser Schmetterling tritt nur einmal in seinem kurzen Leben den Weg über den Erisee an, um dort neue Nachkommen zu zeugen. Er kehrt nicht zurück. Liz hingegen ist zurückgekehrt an den Ort ihrer Kindheit. Sie begibt sich auf Spurensuche auf der einst florierenden, inzwischen verlassenen Plantage, um zu verstehen, wie es zu dem großen Bruch in ihrer Familie kommen konnte.

Als Kind verbrachte sie ihre freie Zeit mit Schwimmen, Spielen und den Geschichten ihres Onkels Stanley, der die eigenen Vorfahren in seinen Erzählungen wieder auferstehen ließ. Gemeinsam mit ihrer Cousine Mandy wartete sie am Ende eines jeden Sommers darauf, dass ihr Lieblingsbaum sich orange färben würde, wenn die Monarchfalter sich auf den Weg über den See machen wollten: "ein Herbstbaum, der sich in einen brennenden Dornbusch verwandelt - eine gewöhnliche Zeder lodernd von Flügelgeflatter".

Doch je älter das Mädchen wurde, desto komplizierter wurden auch die Beziehungen in der Familie zueinander, die heile Welt der Kindheit bekam erste Risse. Da war ihr charismatischer Onkel, dessen Arbeitswut sich mit Phasen völliger Lethargie abwechselte und um den die gesamte Familie wie ein Satellit kreiste, abhängig von Stanley`s Gemütszustand und Ideen. Da war Theo, Sohn der mexikanischen Vorarbeiterin, der einst Spielkamerad der kleinen Liz war und zu ihrer ersten großen Liebe wurde. Und da war ihre kluge Cousine Mandy, die in einer Welt voller Lyrik aufging. Sie alle waren an den Ort gebunden und verwoben mit dessen Geschichten, die in das Verschwinden des Onkels mündeten.

In ihrem neuen Roman entfaltet Urquhart das Panorama einer Familiensaga vor dem Hintergrund der weiten kanadischen Seenlandschaft. Parallel dazu erzählt sie von den Anfängen der Besiedlung Kanadas durch irische EinwanderInnen. Dadurch bekommen die Lesenden eine Ahnung von den Anstrengungen, derer es bedurfte, um das Land bewohnbar zu machen.
Urquhart lässt ihre Hauptfigur Erinnerungen und Geheimnisse der Familie in Episoden erzählen. Es scheint, als ob der Ich-Erzählerin die Erinnerungen erst im Moment des Schreibens wieder geläufig würden. Nach und nach entwickelt sich aus den Fragmenten ein Bild der Familie.

Die Depressionen des Onkels werden von der Familie nicht als Krankheit wahrgenommen. Stattdessen sehen alle die extremen Gefühlsschwankungen des Plantagenbesitzers als Teil seines Charakters an und erdulden seine emotionalen Ausbrüche, ohne sie zu hinterfragen. Wie sehr Stanley unter dem Perfektionismusanspruch seiner Frau leidet, kann die Leserin nur erahnen. Es wird nicht weiter ausgeführt, warum sie versucht ihren Mann emotional zu dominieren Ähnlich verhält es sich mit den mexikanischen SaisonarbeiterInnen, die der Onkel als einer der ersten nach Kanada holte: "Sonntags besuchten sie die Frühmesse (…) Auf die Idee, dass sie sich in der örtlichen Kirchengemeinden nicht willkommen fühlten, kamen wir nicht."

Mit präzisen Worten und einem Blick fürs Detail beschreibt Urquhart aus der Position einer Beobachterin die Geschehnisse. Atmosphärisch dicht und trotzdem unaufgeregt lässt sie den Tod in das Leben der PlantagenbewohnerInnen treten, der diese für immer beeinflusst und verändert. So, wie die Hauptfigur Liz magnetisch von der Vergangenheit angezogen wird, ergeht es mensch auch bei der Lektüre dieses bildhaften, poetischen Romans.

Zur Autorin: Jane Urquhart wurde 1949 in Geralton, Ontario, geboren, wuchs in Toronto auf und lebt heute wieder in einer Kleinstadt in Ontario. Sie gehört zu den erfolgreichsten kanadischen SchriftstellerInnen der Gegenwart. 1995 erschien ihr Roman Fort, der sich 132 Wochen in den kanadischen Bestsellerlisten hielt. Es folgten Übermalungen (1997), Im StrudelDie Bildhauer (2002) und Die Gläserne Karte (2008). Mit Die Bildhauer wurde Urquhart 2003 für den renommierten Booker Prize nominiert. (Verlagsinformationen)

AVIVA-Tipp: Jane Urquhart entfaltet ihre Geschichte auf leise, unaufdringliche Art. Distanziert beobachtend und mit sprachlicher Genauigkeit entwirft die Autorin eine Familienchronik, die im Hier und Jetzt verankert ist und gleichzeitig ein Stück Landes- und Siedlungsgeschichte vermittelt.


Jane Urquhart
Der Schmetterlingsbaum

Originaltitel: Sanctuary Line
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Bloomsbury Berlin, erschienen am 28. April 2012
Gebunden, 236 Seiten
ISBN: 978-3-8270-1063-6
19,90 Euro
www.berlinverlage.com

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Beitrag vom 01.06.2012

AVIVA-Redaktion